BGB § 253 Abs. 2 § 254 Abs. 2; StVG § 7 Abs. 1 § 11 S. 2 § 17 Abs. 1

Leitsatz

1) Im Falle einer Unfallverletzung im Straßenverkehr bei nicht angelegtem Sicherheitsgurt kann eine anspruchsmindernde Mithaftung des Geschädigten nur dann angenommen werden, wenn feststeht, dass nach der Art des Unfalls die erlittenen Verletzungen entweder bei angelegtem Gurt verhindert worden wären oder jedenfalls weniger schwerwiegend gewesen wären.

2) Bei verschiedenen Verletzungen, bei denen sich der angelegte Gurt unterschiedlich ausgewirkt hätte, darf zusammenfassend eine einheitliche Mithaftungsquote gebildet werden.

3) Für die Feststellung der Ursächlichkeit des Nichtanlegens des Gurtes für Unfallverletzungen können nach Einholung eines medizinischen Gutachtens die Regeln des Anscheinsbeweises herangezogen werden. Die Einholung lediglich eines unfallanalytischen und verletzungsmechanischen Gutachtens genügt nicht, da der medizinischen Begutachtung die Letztentscheidung zukommt.

4) Auf den unfallbedingten Erwerbsschaden muss sich der Geschädigte ersparte Aufwendungen (Wegfall von Fahrtkosten, Verpflegungsmehrkosten, Kosten der Reinigung von Arbeitskleidung) anrechnen lassen, deren Pauschalbetrag zwischen 5 % und 10 % liegt. Der um die berufsbedingten Aufwendungen gekürzte Verdienstausfall ist bei der Bestimmung des ersatzfähigen Schadens aufgrund der Haftungsquote zu kürzen; ein Abzug von dem ohne Berücksichtigung der ersparten Aufwendungen ungekürzten Verdienstausfall ist fehlerhaft.

5) Der Geschädigte ist gehalten, unfallbedingte Beeinträchtigungen der Haushaltsführung durch Umorganisation oder den Einsatz technischer Hilfsmittel zu kompensieren. Eine Beeinträchtigung bis zu 10 % kann durch Umorganisation schadensvermeidend verhindert werden.

6) Der Geschädigte kann ein Schmerzensgeld im Wege der offenen Teilklage unter Beschränkung auf die bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung eingetretenen Schadensfolgen geltend machen.

7) Die sog. tagesgenaue Bemessung des Schmerzensgeldes, wie in dem "Handbuch Schmerzensgeld" von Schwintowski/Schah Sedi/Schah Sedi dargestellt, stellt keine geeignete Methode zur Bestimmung des angemessenen Schmerzensgeldes dar. Die nach dieser Methode im ersten Schritt schematisierende Feststellung der Arbeitsunfähigkeit und des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) muss auf der zweiten Stufe durch Abstellen auf individualisierende Bewertungen der Umstände des Einzelfalls korrigiert werden, womit die zunächst erstrebte Erleichterung der Bestimmung des Schmerzensgeldes rückgängig gemacht wird.

(Leitsätze der Schriftleitung)

OLG München, Urt. v. 25.10.2019 – 10 U 3171/18

Sachverhalt

Der Kl. macht die Verurteilung der Bekl. zum Ersatz des ihm aus einem Verkehrsunfall erwachsenen Schadens geltend. Zu dem Schaden des Kl. kam es, als der Bekl. zu 2) mit dem von ihm geführten Fahrzeug übersah, dass der Fahrer eines vor ihm fahrenden Fahrzeuges dessen Geschwindigkeit verkehrsbedingt verringern musste, so dass der Bekl. zu 2) auf das vor ihm fahrende Fahrzeug auffuhr. Das aufgeschobene Fahrzeug wurde auf ein weiteres davor fahrendes Fahrzeug aufgeschoben, das auf die Gegenfahrbahn geriet, wo es mit dem Fahrzeug des Kl. kollidierte. Der im Fahrzeug des Kl. eingebaute Airbag öffnete sich. Der Kl. hatte den in seinem Fahrzeug vorhandenen Sicherheitsgurt nicht angelegt. Er wurde bei dem Unfall schwer verletzt.

Die Bekl. leisteten eine Vorschusszahlung auf das Schmerzensgeld von 26.449 EUR. Das LG sprach dem Kl. ein weiteres Schmerzensgeld von 1.104,60 EUR zu und stellte im Urteil fest, dass die Bekl. verpflichtet sind, dem Kl. alle Schäden zu ersetzen, die auf den Unfall zurückzuführen sind, mit der Einschränkung der Folgen einer früheren Verletzung und des Übergangs der Ansprüche auf Dritte.

Mit der Berufung verfolgt der Kl. ein weiteres Schmerzensgeld von 17.446,40 EUR, damit insgesamt 45.000 EUR, hilfsweise die Feststellung, dass die vorgerichtliche Schmerzensgeldzahlung und der im angefochtenen Urteil des LG zugesprochene Betrag Schmerzensgeldteilzahlungen darstellen, die Zahlung weiterer 26.110,84 EUR zur Abgeltung von Zuzahlungen und Fahrtkosten, des Haushaltsführungsschadens und des Verdienstausfalls sowie die Feststellung der Ersatzpflicht der Bekl. auch bezüglich der unfallbedingten immateriellen Schäden des Kl.

Weiterhin beantragt der Kl. hinsichtlich der von ihm verfolgten Erhöhung des Schmerzensgeldes die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Zurückverweisung an das LG.

Mit ihrer Anschlussberufung verfolgen die Bekl. hinsichtlich der im angefochtenen Urteil zugesprochenen Zahlungsansprüche deren Abweisung und die Beschränkung des Feststellungsausspruchs auf materielle Schäden.

Die Berufung hatte lediglich im Hilfsantrag teilweise Erfolg, die Anschlussberufung hatte keinen Erfolg.

2 Aus den Gründen:

"…"

[27] I. Die Bekl. haften dem Kl. samtverbindlich zu 70 % für dessen unfallbedingt entstandene Schäden. Dem Kl. ist ein Mitverschulden von 30 % hinsichtlich des nicht angelegten Sicherheitsgurtes zuzurechnen.

[28] 1. Die Abwägung und Gewichtung der Verur...

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