StVG § 7 Abs. 2 § 17 Abs. 3; StVO § 3 Abs. 3 Nr. 1 § 8 Abs. 2 S. 2 § 9 Abs. 3

Leitsatz

Überschreitet der entgegenkommende vorfahrtsberechtigte Geradeausfahrer die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um mehr als das Doppelte und kollidiert er mit einem Linksabbieger, ist von einer Alleinhaftung des Geradeausfahrers auszugehen.

(Leitsatz der Schriftleitung)

KG, Urt. v. 22.8.2019 – 22 U 33/18

Sachverhalt

Der Fahrer des geradeausfahrenden Pkw macht nach einer Kollision mit dem linksabbiegenden Kfz des Bekl. zu 1), dessen Fahrzeug bei der Bekl. zu 2) haftpflichtversichert ist, die Verurteilung der Bekl. zur Zahlung von Schadenersatz geltend. Der Kl., der Verletzungen bei der Kollision der Fahrzeuge erlitten hatte, hatte nach den Feststellungen des Sachverständigen die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um mehr als das Doppelte überschritten.

Das LG wies die Klage mit der Begründung ab, dass der besonders schwere Verkehrsverstoß des Kl. bei der Haftungsabwägung zu dessen alleiniger Haftung führe. Die Berufung des Kl., der die Zugrundelegung einer Haftungsquote von einem Drittel zu Lasten der Bekl. verfolgt, war erfolglos.

2 Aus den Gründen:

"…"

[11] Das angefochtene Urteil hält den Berufungsangriffen stand. Das LG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

[12] 1. Zutreffend ist das LG davon ausgegangen, dass der Verkehrsunfall weder durch höhere Gewalt (§ 7 Abs. 2 StVG) verursacht wurde, noch für eine der Parteien unabwendbar (§ 17 Abs. 3 StVG) war.

[13] Das LG hat ebenfalls zutreffend erkannt, dass der Bekl. zu 1) ein Verstoß gegen § 9 Abs. 3 S. 1 StVO und dem Kl. ein Verstoß gegen § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO unfallverursachend vorzuwerfen war.

[14] a) Dabei folgt der Senat allerdings der landgerichtlichen Auffassung, der gegen die Bekl. zu 1) als Linksabbiegende streitende Anscheinsbeweis sei erschüttert, nicht.

[15] Nach § 9 Abs. 3 S. 3 StVO muss, wer links abbiegen will, entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren lassen. Wenn der Linksabbieger der hiernach bestehenden Wartepflicht nicht genügt und es deshalb zu einem Unfall kommt, spricht ein Anscheinsbeweis für das Verschulden des Abbiegenden (BGH, Urt. v. 13.2.2007 – VI ZR 58/06, juris Rn 8). Der Entgegenkommende verliert auch durch eine Geschwindigkeitsüberschreitung seinen Vorrang gegenüber dem Linksabbiegenden nicht (BGH, Urt. v. 25.3.2003 – VI ZR 161/02 –, juris Rn 9), vielmehr hat der Abbiegende jedenfalls mit möglichen mäßigen, wenngleich nicht unvernünftig hohen Geschwindigkeitsüberschreitungen des Entgegenkommenden zu rechnen (BGH, Urt. v. 14.2.1984 – VI ZR 229/82, juris Rn 15). Der Wartepflichtige darf aber insoweit auf die Einhaltung einer angemessenen oder üblicherweise bei vernünftiger Verkehrserwartung noch tolerierten Geschwindigkeit des entgegenkommenden bevorrechtigten Kraftfahrers nur solange vertrauen, als er bei sorgfältiger Beobachtung der Fahrbahn nicht erkannte oder erkennen musste, dass dieser sich mit einer höheren Geschwindigkeit nähert (BGH. a.a.O.).

[16] b) Hier hat sich das Klägerfahrzeug der Unfallstelle zwar mit einer um mehr als 100 % über der maximal zulässigen Höchstgeschwindigkeit liegenden und damit mit einer im konkreten Fall der hier im Innenstadtbereich an einer Straßenbahnhaltestelle liegenden Unfallstelle nicht mehr zu erwartenden unvernünftig hohen Geschwindigkeit genähert, es ist aber nicht ersichtlich, wieso dies die Beklagte nicht hätte erkennen müssen. Zwar kann aufgrund der Dunkelheit zum Unfallzeitpunkt und der möglicherweise sichtbeeinträchtigenden Straßenbahnhaltestelle an der Unfallstelle von einer erschwerten Einschätzbarkeit ausgegangen werden, dies befreit den Linksabblegenden aber nicht von der Pflicht, sich im Zweifel (etwa dann, wenn bei vollkommener Dunkelheit nur Scheinwerferlicht sichtbar ist) durch längeres Beobachten Gewissheit über die Annäherungsgeschwindigkeit des Bevorrechtigten zu verschaffen. Dass dies hier nicht möglich gewesen wäre, ist nicht ersichtlich, zumal die im Innenstadtbereich gelegenen streitgegenständlichen Straßen durch Straßenbeleuchtung hinreichend ausgeleuchtet waren.

[17] 2. Der danach weiter bestehende Vorwurf einer Sorgfaltspflichtverletzung beim Linksabbiegen führt hier gleichwohl aber nicht zu einer Haftung der Bekl.

[18] Dem LG ist darin zuzustimmen, dass der Verkehrsverstoß der Bekl. zu 1) ebenso wie die Betriebsgefahr ihres Kfz (§ 7 Abs. 1 StVG) hinter dem besonders schweren Verkehrsverstoß des Kl. zurücktreten, so dass dieser für seinen Schaden allein einzustehen hat.

[19] a) Nach den Feststellungen des Sachverständigengutachtens des Sachverständigen … , denen die Berufung insoweit nicht mehr entgegentritt, befuhr der Kläger die P-Straße in B, die vor der Unfallstelle keine Fahrstreifenmarkierungen aufweist und deren rechter Fahrbahnrand als Parkstreifen benutzt wird, in nördlicher Richtung bei Dunkelheit und trockenen Straßenverhältnissen mit einer Geschwindigkeit von mindestens 103 km/h und damit mit einer Geschwindigkeit, die um mehr als das Doppelte über der unter günstigsten Umständen zulässigen Höchstgeschwindigke...

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