Eine Pflicht des Gerichts, bei Aufruf zur Sache auf den Betroffenen und seinen Verteidiger zu warten, besteht grundsätzlich nicht, auch nicht bei Vertretung durch einen Verteidiger. Im Rahmen der gerichtlichen Fürsorgepflicht sind aber in jedem Fall geringfügige Verspätungen zu berücksichtigen,[18] insb. wenn sie angekündigt wurden oder andere Umstände darauf schließen lassen, dass die Teilnahme gewollt ist.[19] 15 Minuten gelten als angemessen,[20] aber auch ausreichend, wenn keine besonderen Umstände vorliegen;[21] im Einzelfall kann die Wartepflicht auch länger sein, insb. wenn die Verspätung vorab mitgeteilt und das Erscheinen angekündigt wurde.[22] Maßgeblich für die Berechnung der Wartepflicht ist die angesetzte Terminsstunde und nicht der Beginn der Hauptverhandlung.[23] Bei Unterbrechung der Hauptverhandlung, z.B. zur Formulierung eines Beweisantrags, darf nicht unerwartet früh wieder aufgerufen und dann bei Abwesenheit des Betroffenen und seines Verteidigers verworfen werden.[24] Ist der Betroffene aber von seinem persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung gem. §§ 73 Abs. 1, 74 Abs. 1 OWiG entbunden, so muss das Gericht grundsätzlich nicht damit rechnen, dass der Betroffene und sein Verteidiger zu spät erscheinen und darf daher mit der Hauptverhandlung auch pünktlich beginnen.[25] Eine länger gebotene Wartezeit wird auch nicht schon dadurch ausgelöst, dass der Betroffene kurz nach Beginn der 15-minütigen Wartezeit mitteilt, dass er sich verspätet habe und "gleich" da sein werde. Hieraus kann der Tatrichter allenfalls entnehmen, dass der Betroffene noch (irgendwann demnächst) kommen will, nicht aber, wann er voraussichtlich erscheinen wird. Insbesondere ist dann nämlich nicht für den Tatrichter erkennbar, dass und in welchem Umfang ein weiteres, die regelmäßige Wartezeit von 15 Minuten übersteigendes Zuwarten aus Gründen prozessualer Fürsorge geboten gewesen wäre.[26]

[18] OLG Hamm, Beschl. v. 30.9.1996 – 3 Ss OWi 1054/96, NZV 1997, 408; Krenberger/Krumm, OWiG, 5. Aufl. 2018, § 74 Rn 21.
[19] KG, Beschl. v. 29.6.2015 – 3 Ws (B) 222/15-162 Ss 36/15, NStZ-RR 2015, 385 = NZV 2016, 244; Krenberger/Krumm, OWiG, 5. Aufl. 2018, § 74 Rn 21.
[20] LG Neubrandenburg, Beschl. v. 26.3.2003 – 8 Qs 15/03, zfs 2003, 318; Krenberger/Krumm, OWiG, 5. Aufl. 2018, § 74 Rn 21.
[21] OLG Jena, Beschl. v. 29.8.2011 – 1 Ss Rs 86/11 (213), zfs 2012, 349 = NJW-Spezial 2012, 43 = VRS 122, 227; KG, Beschl. v. 10.5.2012 – 3 Ws (B) 261/12-162 Ss 71/12, VRS 123, 291; Krenberger/Krumm, OWiG, 5. Aufl. 2018, § 74 Rn 21.
[22] OLG Jena, Beschl. v. 29.8.2011 – 1 Ss Rs 86/11 (213), zfs 2012, 349 = NJW-Spezial 2012, 43 = VRS 122, 227; OLG Hamm NStZ-RR 2007, 120; OLG Frankfurt DAR 2008, 33; OLG Köln, Beschl. v. 8.7.2013 – 2 Ws 354/13, BeckRS 2013, 17036; Krenberger/Krumm, OWiG, 5. Aufl. 2018, § 74 Rn 21; Senge, in: KK-OWiG, 5. Aufl. 2017,§ 74 Rn 31.
[23] OLG Frankfurt NZV 2012, 605; Krenberger/Krumm, OWiG, 5. Aufl. 2018, § 74 Rn 21.
[24] OLG Bamberg DAR 2012, 393; KG NStZ-RR 2015, 55; Krenberger/Krumm, OWiG, 5. Aufl. 2018, § 74 Rn 21.
[25] KG, Beschl. v. 29.6.2015 – 3 Ws (B) 222/15-162 Ss 36/15; OLG Düsseldorf VRS 85, 321 f.
[26] OLG Jena zfs 2012, 349 = NJW-Spezial 2012, 43 = VRS 122, 227 (bei tatsächlich 30 Minuten Wartezeit).

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