GG Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Art. 8 Art. 71 Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 Art. 74 Abs. 1 Nr. 1; BayPAG Art. 33 Abs. 2 S. 2 bis 5 Art. 13 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 Art. 38 Abs. 3; BayPAG neu Art. 39 Abs. 1 und Abs. 3 S. 1 bis 3

Leitsatz

1. Eine automatisierte Kfz-Kennzeichenkontrolle begründet Eingriffe in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aller Personen, deren Kennzeichen in die Kontrolle einbezogen werden, auch wenn das Ergebnis zu einem "Nichttreffer" führt und die Daten sogleich gelöscht werden (Abweichung von BVerfGE 120, 378).

2. Für die Abgrenzung zwischen der dem Bund nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zur Gesetzgebung zugewiesenen Materie der Strafverfolgung und der den Ländern grundsätzlich belassenen Materie der Gefahrenabwehr ist maßgeblich auf den Zweck der Regelungen abzustellen, wie er sich in objektivierter Sicht aus ihrer Ausgestaltung ergibt.

3. Der Landesgesetzgeber ist nicht dadurch an einer der Gefahrenabwehr dienenden Regelung gehindert, dass deren tatsächliche Wirkungen auch die Strafverfolgung befördern. Die Regelung muss jedoch strikt von der Zwecksetzung her bestimmt sein, für die die Kompetenz des Landes besteht.

4. Polizeiliche Kontrollen zur gezielten Suche nach Personen oder Sachen setzen als Grundrechtseingriffe nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich einen objektiv bestimmten und begrenzten Anlass voraus. Sie unterscheiden sich damit von Kontrollen, die an ein risikobehaftetes Tun oder die Beherrschung besonderer Gefahrenquellen anknüpfen und deshalb auch anlasslos gerechtfertigt sein können.

5. Automatisierte Kfz-Kennzeichenkontrollen müssen angesichts ihres Eingriffsgewichts dem Schutz von Rechtsgütern von zumindest erheblichem Gewicht oder einem vergleichbar gewichtigen öffentlichen Interesse dienen. Die Reichweite der für den Datenabgleich herangezogenen Fahndungsbestände ist anlassbezogen zu begrenzen.

6. Als Unterstützung von polizeilichen Kontrollstellen zur Verhinderung von schweren oder versammlungsrechtlichen Straftaten stehen Kennzeichenkontrollen mit Verfassungsrecht in Einklang, wenn die Einrichtung solcher Kontrollstellen selbst an einen hinreichend gewichtigen Anlass gebunden ist. Das ist der Fall, wenn dies eine konkrete Gefahr voraussetzt.

7. Als Mittel der Schleierfahndung bedürfen Kennzeichenkontrollen einer besonderen Rechtfertigung. Diese ergibt sich aus dem Wegfall der innereuropäischen Grenzkontrollen und dem Ziel, einer hierdurch erleichterten Begehung von Straftaten entgegenzutreten. Voraussetzung ist, dass die Kontrollen sachlich und örtlich einen konsequenten Grenzbezug aufweisen.

BVerfG, Beschl. v. 18.12.2018 – 1 BvR 142/15

1 Entscheidung

"… Mit (…) Beschl. hat der Erste Senat des BVerfG die automatisierte Kfz-Kennzeichenkontrolle nach dem BayPAG als Verstoß gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in Teilen für verfassungswidrig erklärt. In solchen Kontrollen liegen Grundrechtseingriffe gegenüber allen Personen, deren Kfz-Kennzeichen erfasst und abgeglichen werden, unabhängig davon, ob die Kontrolle zu einem Treffer führt (Änderung der Rechtsprechung). Diese Eingriffe sind nur teilweise gerechtfertigt."

Hinsichtlich der angegriffenen Vorschriften steht dem Freistaat Bayern überwiegend die Gesetzgebungskompetenz zu. Die Regelung von Kennzeichenkontrollen, die als Mittel der Gefahrenabwehr ausgestaltet sind, liegt bei den Ländern, auch wenn sie im Ergebnis zugleich der Strafverfolgung nutzen, für die der Bund eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz hat. Kompetenzwidrig sind die bayerischen Regelungen jedoch, soweit sie Kennzeichenkontrollen unmittelbar zum Grenzschutz erlauben.

Kennzeichenkontrollen bedürfen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich eines hinreichend gewichtigen Anlasses. Dem genügen die Vorschriften nicht, soweit die Kontrollen nicht auf den Schutz von Rechtsgütern von zumindest erheblichem Gewicht beschränkt sind und als Mittel der Schleierfahndung keinen hinreichend bestimmten Grenzbezug aufweisen. Soweit sie automatisierte Kennzeichenkontrollen zur Unterstützung von polizeilichen Kontrollstellen erlauben, ist das nicht zu beanstanden, weil die Einrichtung solcher Kontrollstellen bei verständiger Auslegung eine konkrete Gefahr und damit selbst einen rechtfertigenden Anlass voraussetzt. Die Vorschriften zum Abgleich der erfassten Kennzeichen müssen verfassungskonform einschränkend so ausgelegt werden, dass jeweils nur die Fahndungsbestände zum Abgleich herangezogen werden dürfen, die zur Abwehr der Gefahr geeignet sind, die Anlass der jeweiligen Kennzeichenkontrolle ist. Im Übrigen fehlt es den Regelungen an einer Pflicht zur Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen.

Der Senat hat die verfassungswidrigen Vorschriften größtenteils übergangsweise für weiter anwendbar erklärt, längstens jedoch bis zum 31.12.2019.

Sachverhalt:

In Bayern ist die Polizei dazu ermächtigt, automatisierte Kfz-Kennzeichenkontrollen durchzuführen. Dabei wird das Kennzeichen eines vorbeifahrenden Kfz verdeckt von einem Kennzeichenlesesystem auto...

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