Langfassung des Vortrags, den der Verfasser auf dem 47. Deutschen Verkehrsgerichtstag 2009 (28. bis 30.1.2009) in Goslar im Arbeitskreis VII Probleme mit den Punkten gehalten hat.

Einführung

Das Grundprinzip des Punktesystems ist stimmig und gerechtfertigt. Wer immer wieder im Straßenverkehr auffällt, soll sein Verhalten ändern. Ansonsten muss ihm als letzte Konsequenz die Fahrerlaubnis entzogen werden. Das regelt § 4 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG). Damit müsste doch gut gearbeitet werden können. Ein anerkannter Fachanwalt für Verkehrsrecht hat gerade eben über "Probleme mit den Punkten" gesprochen. Wer mit dem Leiter einer Führerscheinbehörde über das Punktesystem spricht, er hört sinngemäß "komplizierte Rechnerei", ja selbst die Kollegen am Verwaltungsgericht sagen bei Punktefällen, das sei ein "elendes Herumgerechne". Bereits das Punktesystem in § 4 StVG selbst hält einige komplizierte "Fallstricke" bereit. Daneben muss dieses System mit anderen Instituten des Fahrerlaubnisrechts gekoppelt werden, etwa den Vorschriften über das Verkehrszentralregister. Denn Zuwiderhandlungen, die länger zurückliegen, sollen dem Betroffenen nicht mehr vorgehalten werden – das ist ein Gebot der Verhältnismäßigkeit; das ist in § 29 StVG festgeschrieben. Das kann im Einzelfall zu komplizierten Konstellationen führen. Auch die Fahrerlaubnis auf Probe muss mit dem Punktesystem abgestimmt werden. Im Folgenden beleuchte ich einige Problempunkte des Punktesystems, die den Verwaltungen und den Verwaltungsgerichten zu schaffen machen. Hier könnte eine Vereinfachung oder Klarstellung hilfreich sein.

1. § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG "Ergeben sich": Rechtskraftprinzip oder Tattagsprinzip?

§ 4 Abs. 3 Satz 1 StVG knüpft die Pflicht der Verwaltung zu bestimmten Reaktionen daran, dass sich bestimmte Schwellen-Punktestände "ergeben". Ist damit gemeint, dass der Betroffene durch sein Verhalten die Punkte verwirklicht ("Tattagsprinzip"[2]) oder dass er auf Grund rechtskräftiger Feststellung im Ordnungswidrigkeiten- oder Strafverfahren ("Rechtskraftprinzip"[3]) einen bestimmten Punktestand erreicht? In der Rechtsprechung war bis vor Kurzem umstritten, ob für die Ermittlung des Punktestandes das Rechtskraft- oder das Tattagsprinzip zur Anwendung kommen sollen. In einem Aufsatz war zu lesen, dass es in dieser Frage unter den Oberverwaltungsgerichten in Deutschland "unentschieden" stehe.[4] Erst mit Urt. v. 25. September 2008 hat das Bundesverwaltungsgericht[5] – fast 10 Jahre nach Einführung des Punktesystems in seiner aktuell gültigen Fassung – die Streitfrage zugunsten des Tattagsprinzips geklärt. Bedeutung erlangt die Frage in Fällen, in denen es darauf ankommt, bei welchem Punktestand ein Punkteabzug vorgenommen wird, sodass das Erreichen von 18 Punkten verhindert wird. Als Beispiel ist die Konstellation zu nennen, dass ein Punkterabatt von 2 Punkten für die Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Beratung vorzunehmen ist. Allerdings wurde vor der Beratung eine erneute Zuwiderhandlung begangen, die noch nicht rechtskräftig geahndet ist. Legt man das Tattagsprinzip zugrunde, ist der vor der Beratung durch die Zuwiderhandlung erreichte Punktestand zugrunde zu legen; ist damit eine relevante Punkteschwelle erreicht, hilft auch der danach erfolgende Punkteabzug nichts, da die Behörde mit Begehung der neuen Tat die im Gesetz festgelegte Maßnahme ergreifen muss. Legt man das Rechtskraftprinzip zugrunde, erfolgt der Punkteabzug von dem Stand, der sich ohne die bereits begangene, aber noch nicht rechtskräftig geahndete Zuwiderhandlung ergibt. So kann das Erreichen einer relevanten Punkteschwelle verhindert werden. Bei der Berechnung nach dem Tattagprinzip muss die Behörde nicht nur den Punktestand berücksichtigen, wie er sich nach den rechtskräftigen Sanktionen ergibt, sondern zusätzlich prüfen, wie sich eine begangene, aber noch nicht rechtskräftig geahndete Tat auf den Punktestand auswirkt. Das macht den Vollzug nicht einfacher.

[2] Vgl. etwa BayVGH vom 14.12.2005, DAR 2006, 169.
[3] Vgl. etwa VGH BW vom 9.1.2007, 10 S 1874/06; NdsOVG vom 24.1.2007, NZV 2007, 265.
[4] Kalus, VD 2007, 166 mit Übersicht über den Streitstand.

2. Bindung an die rechtskräftige Entscheidung

In § 4 Abs. 3 Satz 2 StVG ist angeordnet, dass die Fahrerlaubnisbehörde bei den Maßnahmen nach den Nummern 1 bis 3 an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder die Ordnungswidrigkeit gebunden ist. Was ist aber, wenn etwa der Bußgeldbescheid – ein vereinfachtes Massenverfahren – offensichtlich rechtswidrig ist, weil für die Behörde und das Verwaltungsgericht aus den beigezogenen Bußgeldakten ohne weiteres ersichtlich ist, dass der Betroffene den vorgeworfenen Verstoß gar nicht begangen hat? Der Gesetzgeber hat in § 4 Abs. 3 Satz 2 StVG ausdrücklich angeordnet, dass die Behörde an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder die Ordnungswidrigkeit gebunden ist. Prüfungsgegenstand einer verwaltungsgerichtlichen Kontrolle ist daher nur der auf der Ahndung aufbauende Bescheid. Ob der Verkehrsverstoß tatsächlich durch den Betroffenen be...

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