"… [2] 1. Die Berufung ist zulässig. Insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet, §§ 517, 519, 520 ZPO. In der Sache hat sie jedoch keinen Erfolg."

[3] Das Erstgericht hat die Bekl. ohne Rechtsverletzung, § 513 ZPO, nach §§ 7 Abs. 1, 11 S. 2 StVG, § 253 BGB, § 115 VVG zur Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes i.H.v. 2.000 EUR verurteilt.

[4] a) Die Feststellung des AG, wonach den Versicherten der Bekl. kein Mitverschulden (§ 9 StVG, § 254 BGB) trifft, obwohl er bei dem Unfall keine Motorradschutzkleidung an den Beinen trug, ist nicht zu beanstanden. Ob das Nichttragen zu berücksichtigen ist, wird in der Judikatur nicht einheitlich beantwortet. Klar ist zunächst, dass nur das Tragen eines Schutzhelms gesetzlich vorgeschrieben ist (§ 21a Abs. 2 StVO), für eine Schutzkleidung gibt es keine vergleichbare Regelung. Allein deswegen kann ein Mitverschulden des Motorradfahrers aber noch nicht verneint werden. Denn die Sorgaltspflicht von Verkehrsteilnehmern richtet sich nicht allein nach geschriebenen Normen.

[5] Maßstab ist, ob der Verletzte diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt. Der BGH hat bereits in einer Entscheidung aus dem Jahr 1979 (Urt. v. 30.1.1979 – VI ZR 144/77, NJW 1979, 980) festgestellt, dass grds. maßgeblich ist, ob und inwieweit ein allgemeines Verkehrsbewusstsein besteht, zum eigenen Schutz bestimmte Schutzkleidung zu tragen.

[6] Teilweise wird vor diesem Hintergrund die Notwendigkeit von Motorradschutzkleidung an den Beinen bejaht (OLG Brandenburg, Urt. v. 23.7.2009 – 12 U 29/09, NJW-RR 2010, 538, 539 ff.; LG Köln, Urt. v. 15.5.2013 – 18 O 148/08, Rn 18 zitiert nach juris; offen gelassen: OLG Saarbrücken, Beschl. v. 12.3.2015 – 4 U 187/13, Rn 70 zitiert nach juris; OLG Schleswig, Urt. v. 28.11.2013 – 7 U 158/12, NJOZ 2014, 985). Diese Ansicht überzeugt nicht. Sie stützt sich nicht auf eine positive Erkenntnis des allgemeinen Verkehrsbewusstseins, sondern gelangt allein aufgrund der Feststellung, dass das Tragen von Motorradschutzkleidung das Verletzungsrisiko reduziert, zu der Behauptung, "die meisten Motorradfahrer empfänden es heutzutage als eine persönliche Verpflichtung, mit Schutzkleidung zu fahren" und "jeder wisse, dass das Fahren ohne Schutzkleidung ein um vielfach höheres Verletzungsrisiko in sich berge" (vgl. OLG Brandenburg a.a.O.). Ein allgemeines Verkehrsbewusstsein kann aber nicht allein aus dem Verletzungsrisiko, dem Erkenntnisstand über die verbesserte Sicherheit durch Schutzkleidung oder die Empfehlung von Verbänden hergeleitet werden. Das würde nämlich darauf hinauslaufen, ein Mitverschulden generell dann zu bejahen, wenn der Geschädigte objektiv sinnvolle und allgemein zugängliche Schutzmöglichkeiten nicht gewählt hat. So müsste das Nichttragen eines Helmes bei Radfahrern oder das Weglassen von Oberkörperprotektoren beim Skifahren immer und ausnahmslos ein Mitverschulden begründen. Damit würde aber der Mitverschuldenseinwand von einem Verschulden gegen sich selbst in eine darüber hinausgehende, anderen Verkehrsteilnehmern gegenüber bestehende Obliegenheit heraufgestuft. Das widerspräche der Systematik der § 9 StVG, § 254 BGB und bestehender höchstrichterlicher Rspr.

[7] Die Kammer schließt sich daher der Ansicht an, die das Bestehen eines allgemeinen Verkehrsbewusstseins anhand von allgemein zugänglichen Erkenntnissen über die tatsächlichen Gepflogenheiten der konkreten Gruppe der Verkehrsteilnehmer positiv feststellen will (OLG München, Urt. v. 19.5.2017 – 10 U 4256/16, Rn 25 zitiert nach juris; LG Heidelberg, Urt. v. 13.3.2014 – 2 O 203/13, Rn 28, 129 zitiert nach juris).

[8] Im vorliegenden Fall vermöchte die Kammer ein allgemeines Verkehrsbewusstsein zum Tragen von Motorradschutzkleidung (etwa Lederhosen mit Protektoren) an Beinen beim Fahren einer Harley Davidson nicht festzustellen. Die Bekl. trägt dafür die Darlegungs- und Beweislast. Nach den Erörterungen in der mündlichen Verhandlung vom 21.2.2013 hat die Bekl. eine E-Mail der Bundesanstalt für Straßenwesen in Bergisch Gladbach vorgelegt. Daraus geht hervor, dass im Jahr 2014, dem des streitgegenständlichen Verkehrsunfalls, 43 % der befragten 2.091 Fahrer eine schützende Beinkleidung trugen. Unabhängig davon, ob aus einer Gruppe von rund 2.000 Teilnehmern eine repräsentative Zahl ermittelt werden kann, sind 43 % schon nicht ausreichend, um ein allgemeines Verkehrsbewusstsein festzustellen. Da also auch nach dem weiteren Beklagtenvortrag ein allgemeines Verkehrsbewusstsein nicht gegeben war, musste zur Wahrung rechtlichen Gehörs die mündliche Verhandlung nicht wiedereröffnet werden.

[9] Andere Umstände, die auf ein allgemeines Verkehrsbewusstsein zum Tragen von Schutzkleidung speziell unter Fahrern von Harley Davidsons schließen lassen, wurden nicht dargelegt und sind nicht erkennbar. Die Ausführungen des Klägervertreters, derartige Motorräder würden im Vergleich zu anderen großmotorigen Krafträdern typisch...

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