GG 103 Abs. 1; StPO §§ 230 Abs. 1, 338 Nr. 5; OWiG §§ 73, 74

Eine Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung wirkt stets nur für die jeweilige Hauptverhandlung, also nicht bei Aussetzung und Verlegung, wohl aber für Fortsetzungstermine einer bereits begonnenen Hauptverhandlung

(Leitsatz des Einsenders)

Thüringer OLG Jena, Beschl. v. 9.6.2009 – 1 Ss 101/09

Die Thüringer Polizei – Zentrale Bußgeldstelle – setzte gegen den Betroffenen durch Bußgeldbescheid vom 3.12.2007 wegen einer am 7.8.2007 begangenen Verkehrsordnungswidrigkeit der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 46 km/h eine Geldbuße in Höhe von 100 EUR fest und verhängte ein Fahrverbot von einem Monat Dauer.

In der auf den fristgerechten Einspruch gegen diesen Bußgeldbescheid durchgeführten Hauptverhandlung vom 11.2.2009 verurteilte das AG den Betroffenen, in dessen Abwesenheit und ohne Anwesenheit seines Verteidigers, wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften von 46 km/h zu einer Geldbuße in Höhe von 100 EUR.

Nach Zustellung des mit Gründen versehenen Urteils an den Betroffenen am 13.2.2009, legte dieser durch seinen Verteidiger am 16.2.2009 Rechtsbeschwerde ein, die am 12.3.2009 mit der Rüge der Verletzung formellen und sachlichen Rechts begründet wurde. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hebt das OLG das Urteil des AG mit den getroffenen Feststellungen auf und verweist die Sache zu neuer Prüfung und Entscheidung an das AG zurück.

Aus den Gründen:

“… .II. … . Die Rechtsbeschwerde – mit der ordnungsgemäß erhobenen und ausgeführten Verfahrensrüge der Verletzung des Rechtes des Betroffenen auf Anwesenheit und Mitwirkung in der Hauptverhandlung (§ 230 Abs. 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG, Art. 103, Abs. 1 GG; s.a. Beschl. d. Senats v. 20.6.2005, Az.: 1 Ss 95/04 [= zfs 2006, 348]; Göhler, OWiG, 15. Aufl., § 73 Rn 17; KK-Senge, OWiG, 3. Aufl., § 73 Rn 9) – ist begründet.

Die Voraussetzungen für eine Entscheidung nach § 74 Abs. 1 OWiG in Abwesenheit des Betroffenen waren vorliegend nicht gegeben. Eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass die Hauptverhandlung nur in Anwesenheit des Betroffenen durchgeführt werden darf, liegt nicht vor.

Mit der Verpflichtung des Betroffenen zum Erscheinen in der Hauptverhandlung aus § 73 Abs. 1 OWiG korrespondiert sein Recht auf Teilnahme an dieser als Ausprägung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Zwar kann in Ordnungswidrigkeitenverfahren abweichend von den Regelungen der StPO die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Betroffenen durchgeführt werden, wenn die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 OWiG vorliegen. Dies setzt jedoch u.a. voraus, dass der Betroffene von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden war. Eine Entpflichtung nach § 73 Abs. 2 OWiG lag für den Hauptverhandlungstermin am 11.2.2009 aber nicht vor. Weder gab es einen entsprechenden Antrag des Betroffenen noch erfolgte in der richterlichen Ladungsverfügung vom 4.11.2008 eine Aufhebung der Anwesenheitspflicht.

Der Betroffene hat letztmalig in der Hauptverhandlung vom 11.6.2008 über seinen Verteidiger einen Antrag auf Aufhebung seiner Anwesenheitspflicht für den nächsten Hauptverhandlungstermin gestellt, dem mit Beschluss des Gerichts vom 12.6.2008 für den am 29.10.2008 anberaumten Termin entsprochen worden ist. Dieser musste wegen Erkrankung des Vorsitzenden aufgehoben werden. Da die richterlich angeordnete Ausnahme von § 73 Abs. 1 OWiG jedoch lediglich für die bevorstehende Hauptverhandlung gilt und mit Aussetzung oder Verlegung unwirksam wird (vgl. Göhler, OWiG, 15. Aufl., § 73 Rn 5 m.w.N.), bestand diese Entbindung von der Anwesenheitspflicht für den Termin am 11.2.2009 nicht weiter fort, sondern hätte ggf. wiederholt werden müssen (vgl. KG Berlin VRS 99, 372 f.).

Zwar wäre eine Verletzung des § 230 StPO ausgeschlossen, wenn der Betroffene dem Termin am 11.2.2009 unentschuldigt ferngeblieben wäre (vgl. (Göhler, OWiG, 15. Aufl., § 71 Rn 28 und § 73 Rn 19 f).

Vorliegend hat der Verteidiger nach dem vom Akteninhalt bestätigten Beschwerdevorbringen per Fax am 10.2.2009, Eingang 16:20 Uhr, ein ärztliches Attest übersandt, das dem Betroffenen eine an diesem Tage festgestellte Reise- und Verhandlungsunfähigkeit bis voraussichtlich einschließlich 14.2.2009 bescheinigte, und um Aufhebung des Termin bzw. umgehende Mitteilung bei dessen Fortbestehen gebeten. Als Reaktion auf diesen Antrag vermerkte der zuständige Richter daraufhin am 11.2.2009 in der Akte, dass der Hauptverhandlungstermin bestehen bleibt. Diese Verfügung des Vorsitzenden wurde dem Verteidiger des Betroffenen am 11.2.2009 um 7:43 Uhr per Fax übersandt. Nachfragen bezüglich des attestierten Gesundheitszustandes des Betroffenen erfolgten nicht. Mit Schriftsatz vom 11.2.2009, eingegangen per Fax beim AG um 8:16 Uhr, beantragte der Verteidiger des Betroffenen nochmals die Aufhebung des Hauptverhandlungstermins, da der Betroffene an der Hauptverha...

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