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[6] II. Die form- und fristgerecht erhobene und damit zulässige Berufung der Bekl. hat keine Aussicht auf Erfolg. Die der Entscheidung der Kammer gem. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zugrunde zu legenden Feststellungen des Erstgerichts rechtfertigen keine abweichende Entscheidung (§ 513 Abs. 1 BGB).

[7] 1. Das Erstgericht ist zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Bekl. als auch der Kl. grds. für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gem. §§ 7, 17 Abs. 1, 2 StVG i.V.m. § 115 VVG einzustehen haben, weil diese bei dem jeweiligen Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellte. Das ist zutreffend und wird von der Berufung nicht in Zweifel gezogen.

[8] 2. In die danach gebotene Haftungsabwägung gem. § 17 Abs. 1, 2 StVG hat das Erstgericht auch zutreffend einen Verstoß des Erstbeklagten gegen § 8 Abs. 2 S. 2 StVO eingestellt.

[9] a) Zwar dürfen nach st. Rspr. bei der Ausgleichspflicht mehrerer Unfallbeteiligter gem. § 17 StVG nur erwiesene Umstände herangezogen werden (vgl. BGH NJW 1957, 99 = VersR 1956, 732; NJW 1961, 266 = VersR NJW 1995, 1029 = VersR 1995, 357 m.w.N.), wobei nach allgemeinen Beweisgrundsätzen jeweils der eine Halter die Umstände zu beweisen hat, die dem anderen zum Nachteil gereichen (vgl. BGH VersR 1990, 1406 [1407]; OLG Frankfurt a.M. VersR. 1981, 841). Der Vorfahrtberechtigte, der sich auf einen Vorfahrtsverstoß beruft, hat daher grds. nachzuweisen, dass er für den Wartepflichtigen erkennbar war (vgl. OLG Saarbrücken NJW-RR 2018, 86 Rn 35). Denn der Wartepflichtige hat das Vorfahrtsrecht eines herannahenden Verkehrsteilnehmers nur dann zu beachten, wenn das bevorrechtigte Fahrzeug in dem Augenblick, in dem der Wartepflichtige mit dem Einfahren beginnt, bereits sichtbar ist. Die bloße Möglichkeit, dass auf der Vorfahrtstraße ein Kraftfahrzeug herannahen könnte, löst noch keine Wartepflicht aus (vgl. BGH NJW-RR 1994, 1303 = DAR 1994, 195; OLG Düsseldorf Urt. v. 10.2.2015 – I-1 U 41/14, BeckRS 2016, 15990, LG Osnabrück r+s 2018, 498).

[10] b) Das Erstgericht ist aber auf der Grundlage der von ihm getroffenen Feststellungen zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass im Streitfall zugunsten des Kl. ein nicht erschütterter Anscheinsbeweis dafür spricht, dass der Erstbeklagte den Unfall aufgrund eines Verstoßes gegen seine Pflichten aus § 8 Abs. 2 S. 2 StVO verschuldet hat. Kommt es, wie hier, zu einem Verkehrsunfall mit einem zur Vorfahrt Berechtigten, nachdem der Wartepflichtige bereits (teilweise) in den Einmündungsbereich eingefahren war, spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass ein Verstoß gegen § 8 StVO unfallursächlich war, solange sich der Wartepflichtige noch nicht ohne Behinderung des bevorrechtigten Verkehrs eingeordnet hatte (st. Rspr. vgl. BGH NJW 1976, 1317 = MDR 1976, 305; NJW 1982, 2668 = VersR 1982, 903 m.w.N.; Kammer NJW-RR 2013, 1438 = NZV 2014, 30; NJW 2015, 177 = zfs 2014, 446; NJW-RR 2016, 1307; NJW-RR 2020, 220, jew. m.w.N.).

[11] c) Das Kerngeschehen Kollision zwischen vorfahrtberechtigtem und wartepflichtigem Verkehrsteilnehmer reicht als Grundlage eines Anscheinsbeweises nur dann nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheit gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen (vgl. BGHZ 192, 84 = NJW 2012, 608 Rn 11). Denn es muss das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis Anwendung finden soll, schuldhaft gehandelt hat. Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall typisch ist, kann nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben (vgl. BGH NJW 2016, 1098 Rn 14). Steht indes nicht fest, ob über das – für sich gesehen typische – Kerngeschehen hinaus Umstände vorliegen, die, sollten sie gegeben sein, der Annahme der Typizität des Geschehens entgegenstunden, so steht der Anwendung des Anscheinsbeweises nichts entgegen. In diesem Fall bleibt dem Tatrichter als Grundlage allein das typische Kerngeschehen, das ohne besondere Umstände als Basis für den Anscheinsbeweis ausreicht. Ist also ein Sachverhalt unstreitig, zugestanden oder positiv festgestellt, der die für die Annahme eines Anscheinsbeweises erforderliche Typizität aufweist, so obliegt es demjenigen, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis angewendet werden soll, darzulegen und ggf. zu beweisen, dass weitere Umstände vorliegen, die dem feststehenden Sachverhalt die Typizität wieder nehmen. Er hat den Anscheinsbeweis zu erschüttern, indem er aufzeigt, dass eine abweichende Schadensursache nicht nur im Bereich gedanklicher Möglichkeit, sondern aufgrund erwiesener Tatsachen ernsthaft in Betracht kommt (vgl. BGH NJW-RR 2007, 680 Rn 5; ...

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