StVG § 17

Leitsatz

1) Der Wartepflichtige darf grds. darauf vertrauen, dass Verkehrsteilnehmer auf der Vorfahrtstraße Überholverbote und Fahrstreifenbegrenzungen beachten.

2) Ein Anscheinsbeweis für eine Vorfahrtverletzung des Wartepflichtigen scheidet dann aus, wenn die Typizität des Geschehensablaufs wegen eines Verkehrsverstoßes des Vorfahrtsberechtigten ausgeschlossen ist.

3) Zwar beseitigt ein Verkehrsverstoß des Vorfahrtsberechtigten nicht sein Vorrecht. Er kann aber zur Folge haben, dass die Betriebsgefahr des Fahrzeuges des Wartepflichtigen bei der Haftungsabwägung unberücksichtigt bleibt.

(Leitsätze der Schriftleitung)

OLG Karlsruhe, Urt. v. 17.6.2019 – 1 U 17/18

Sachverhalt

Der Kl. macht die Verurteilung des Bekl. zu 1) als Fahrer und Halter des bei der Bekl. zu 2) haftpflichtversicherten Pkw geltend. Der Bekl. zu 1) fuhr mit seinem Kfz hinter dem mit geringer Geschwindigkeit (unterhalb der zulässigen Höchstgeschwindigkeit) fahrenden Kfz von M hinterher. In Höhe der in seiner Fahrtrichtung liegenden Ausfahrt aus dem Parkplatz eines Einkaufsmarktes überholte er mit seinem Kfz das Fahrzeug von M und stieß mit dem aus der Ausfahrt fahrenden Kfz des Kl. zusammen. In Fahrtrichtung des Fahrzeuges des Kl. befand sich die Ausfahrt des Parkplatzes eines Einkaufsmarktes, für die Zeichen 205 bezüglich des Verkehrs auf der Bundesstraße "Vorfahrt gewähren" anordnete. Die Bundesstraße weist ab der Einmündung des vor dem Einkaufsmarkt befindlichen Tankstellengeländes eine durchgezogene Linie auf (Zeichen 295), die den Fahrstreifen vom Gegenverkehr abgrenzt und an die sich eine an den Fahrstreifen angeordnete Sperrfläche (Zeichen 298) bis zur Einmündung des Einkaufsmarktes anschließt.

Das LG hat nach Beweisaufnahme eine deutliche Überschreitung der einzuhaltenden Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h durch den Bekl. zu 1), der mit 77 km/h gefahren sei, angenommen und ein Überfahren der Sperrfläche zugrunde gelegt. Einen Mithaftungsanteil des Kl. hat das LG verneint.

Die Berufung der Bekl. verfolgt die Abänderung der unter Berücksichtigung der Zahlungen der Bekl. vollständigen Abweisung der Klage durch Zugrundelegung einer Haftungsquote von 50 %. Die Berufung hatte nur geringen Erfolg.

2 Aus den Gründen:

"Die zulässige Berufung der Bekl. hat in der Sache weitestgehend keinen Erfolg."

Das LG ist – jedenfalls im Ergebnis – zu Recht davon ausgegangen, dass sich ein unfallursächlicher Sorgfaltsverstoß des Kl. nicht feststellen lässt und deshalb die auf seiner Seite lediglich verbleibende allgemeine Betriebsgefahr des von ihm gehaltenen und geführten Fahrzeugs hinter die des vom Bekl. zu 1 gehaltenen und geführten Fahrzeugs, die durch dessen grob sorgfaltswidriges Verhalten stark erhöht war, zurücktritt, weshalb die Bekl. dem Kl. als Gesamtschuldner für die Folgen des streitgegenständlichen Unfalls in vollem Umfang einzustehen haben (§ 7 Abs. 1 StVG, § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und S. 4 VVG). Das Verschulden des Bekl. zu 1 begründet auch eine entsprechende deliktische Haftung (§ 823 BGB) der Bekl.

1. Insb. lässt sich – entgegen der Auffassung der Berufung – ein Vorfahrtsverstoß des Kl. (§ 8 StVO) nicht feststellen (§ 286 ZPO).

a) Ein wie der Kl. aufgrund der am Unfallort bestehenden Vorfahrtsregelung durch Verkehrszeichen (Zeichen 205: “Vorfahrt gewähren', § 8 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StVO) wartepflichtiger Verkehrsteilnehmer darf nur dann – in die bevorrechtigte Straße – weiterfahren, wenn er übersehen kann, dass Vorfahrtsberechtigte weder gefährdet noch wesentlich behindert werden (§ 8 Abs. 2 S. 2 StVO). Die gesteigerte Sorgfaltspflicht des Wartepflichtigen, von dem verlangt wird, dass er grds. mit Misstrauen an die Vorfahrtstraße heranfährt und im Zweifel wartet, bringt es mit sich, dass er sich auf den Vertrauensgrundsatz nur in eingeschränkter Weise berufen kann (vgl. BGH, Urt. v. 26.9.1995 – VI ZR 151/94 [juris Rn 16] m.w.N.) Auf das Ausbleiben von groben Verkehrsverstößen darf indes auch ein Wartepflichtiger vertrauen (vgl. BGH, Urt. v. 26.9.1995 – VI ZR 151/94 [juris Rn 16]; Hentschel/König/Dauer, StVR, 45. Aufl. 2019, § 8 StVO Rn 54a m.w.N.). So darf ein Wartepflichtiger insb. auch regelmäßig darauf vertrauen, dass Überholverbote und Fahrstreifenbegrenzungen auf der Vorfahrtsstraße beachtet werden (vgl. Hentschel/König/Dauer, StVR, 45. Aufl. 2019, § 8 StVO Rn 54a m.w.N.). Wenn der Wartepflichtige die auf der Vorfahrtsstraße herannahenden Fahrzeuge sehen kann, muss und darf sich dieser – bei Fehlen anderweitiger Anzeichen – ferner auch darauf verlassen, dass aus einer sich nähernden Fahrzeugkolonne nicht ein Fahrzeug plötzlich zum Überholen ausschert (vgl. BGH, Urt. v. 26.9.1995 – VI ZR 151/94 [juris Rn 18]; Urt. v. 15.6.1982 – VI ZR 119/81 [juris Rn 8]).

b) Letzteres gilt auch vorliegend: Nach dem – zumindest nicht widerlegten – Vorbringen des Kl. hatte dieser die sich (für ihn) von links nähernde Fahrzeugkolonne einschließlich des Fahrzeugs des Bekl. zu 1 im Blick, aus der letzterer zu dem Zeitpunkt, als er – der Kl. – in die bevorrechtigte Straße einfuhr, noch nicht zum Üb...

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