Grundsätzlich, das heißt, wenn keine Rechtswahl nach Art. 22 EuErbVO getroffen wurde, wird das anwendbare Recht gem. Art. 21 EuErbVO mit Hilfe des gewöhnlichen Aufenthalts zum Todeszeitpunkt ermittelt. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist keineswegs neu. Und doch kann auf die bekannten Definitionen, beispielsweise aus dem Familienrecht[6] (etwa § 343 Abs. 1 FamFG)[7] nur gedanklich zurückgegriffen werden, ist doch wegen des sowohl erbrechtlichen als auch international-privatrechtlichen Kontextes eine autonome Auslegung des gewöhnlichen Aufenthalts im alleinigen Sinne der EuErbVO notwendig.[8]

Die Intention des Gesetzgebers, auf die tatsächlichen Begebenheiten des Erblassers möglichst flexibel zu reagieren, erschwert zudem eine abschließende Definition. Denn die unterschiedlichsten Lebensweisen der Erblasser bedingen eine facettenreiche Einzelfallbetrachtung, die dennoch – iSd Rechtssicherheit – einigermaßen vorhersehbar sein muss.

Um den Weg der Ermittlung des anwendbaren Rechts über den gewöhnlichen Aufenthalt als Anknüpfungspunkt nicht zusätzlich zu verwässern, ist eine Orientierung an rein objektiven Kriterien geboten.[9] Die Vorstellung des Erblassers, welchen gewöhnlichen Aufenthalt er gerade innehat, ist somit irrelevant.[10] Das bedeutet indes nicht, dass subjektive Elemente gar keinen Einfluss auf den gewöhnlichen Aufenthalt haben dürfen. Sehr wohl ist unabdinglich, dass jeder Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts auch vom Willen des Erblassers getragen ist.[11] Anderenfalls liefe man beispielsweise bereits Gefahr, dass der gewöhnliche Aufenthalt geschäftsunfähig gewordener Demenzkranker ohne deren Willen geändert und somit die Anwendung eines anderen Rechts von "anderen Tatsachen schaffenden" Dritten erwirkt würde. Das wäre bereits wegen des Höchstpersönlichkeitsgebots letztwilliger Verfügungen (§§ 2064 f BGB) unzulässig. Hinsichtlich des Zeitpunktes ist daher im Zweifel auf den gewöhnlichen Aufenthalt bei letztmaligem Vorliegen der Geschäftsfähigkeit des Erblassers abzustellen.[12]

Nach alledem lässt sich der gewöhnliche Aufenthalt vielleicht am besten als der Ort zusammenfassen, an dem der Erblasser seinen Daseinsmittelpunkt hat, "welcher sich notwendiger-, aber nicht hinreichenderweise aus den individuell zu bewertenden und gewichtenden tatsachenbezogenen Kriterien wie gemeldetem Wohnsitz, familiärem Umfeld, Heimat iSv Herkunft, Art und Ort des Berufs, Staatsangehörigkeit, Sprachkenntnis, Beständigkeit und Dauer des physischen Aufenthalts und Belegenheit von beweglichem und unbeweglichem Vermögen ergibt. Dabei sind subjektive Elemente nur mittelbar zu berücksichtigen, d. h. immer dann, wenn sie sich darauf bezogen haben, dass der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt wechseln wollte, nicht aber, wenn es sich um Vorstellungen des Erblassers zu seinem (momentanen) gewöhnlichen Aufenthalt handelt."[13]

[6] Siehe etwa die allgemeine Zuständigkeit deutscher Gerichte in Ehesachen gem. § 98 Abs. 1 FamFG.
[8] Vgl. von Heinig, RNotZ 2014, 197, 199; Bonomi/Wautelet, Droit européen des successions, Art. 4, Rn 14.
[9] Vgl. nur Döbereiner, MittBayNot 2013, 358, 362.
[10] Dies erfordert auch bereits die Abgrenzung zur Rechtswahl, die als Alternative zur Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt gem. Art. 22 EuErbVO (nur) zugunsten des Heimatrechts (und nicht etwa auch zugunsten des Rechts des gewöhnlichen Aufenthalts) eingeführt wurde.
[11] OLG München, ZEV 2017, 333 (zu § 343 Abs. 1 FamFG); EuGH, Urt. v. 22.12.2010, C-497/10 PPU, EuGHE 2010, I-14309 = ABl. EU 2011, Nr. C 55, 17 = FamRZ 2011, 617 = IPRax 2012, 340. Ebenso OLG Karlsruhe, Beschl. v. 5.6.2015 – 18 UF 265/14, FamRZ 2016, 248: zur Bestimmung des Aufenthalts eines Kleinkindes nach Brüssel II a-VO.
[12] So bereits in Zimmer/Oppermann, ZEV 2016, 129 ff; OLG München, ZEV 2017, 333.
[13] Oppermann, Die Unteranknüpfung nach der EuErbVO im Mehrrechtsstaat Spanien, 37.

I. Gewichtung tatsachenbezogener (objektiver) Kriterien

Je nach Fallgestaltung sind die tatsachenbezogenen Kriterien mithin unterschiedlich zu gewichten.

 
Praxis-Beispiel

Beispiel 1

Ein Ingolstädter Ingenieur wird von seinem Arbeitgeber für sechs Wochen ins katalanische Martorell geschickt, um am dortigen Produktionsstandort das Prozessmanagement zu optimieren.

Dass ein Arbeitnehmer, der von seinem Arbeitgeber nur vorübergehend und für kurze Dauer zu einem ausländischen Firmenstandort geschickt wird, nicht seinen gewöhnlichen Aufenthalt wechselt, ist evident. Jedes einzelne tatsachenbezogene Kriterium der obigen Definition spricht für einen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Auf eine Gewichtung kommt es mithin gar nicht an.

Beispiel 1, erste Abwandlung: Der spanisch sprechende Ingolstädter Ingenieur wird zum Produktionsstättenleiter in Martorell befördert und dorthin dauerhaft entsandt. Er meldet sich im nahen Barcelona an und bezieht dort eine Firmenwohnung. Jedes Wochenende pendelt er zu seiner Familie ins bayerische Ingolstadt.

In der Abwandlung bestehen schon größere Zweifel, ob der gewöhnliche Aufentha...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge