Wendt wirft sodann die auch dogmatisch interessante Frage auf, wieso das sozialrechtliche Nachrangprinzip über § 138 Abs. 1 BGB in die Zivilrechtsordnung hineinwirken und Behinderte bei den erbrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten beschneiden sollte. Er meint, dies sei "alles andere als selbstverständlich und bedürfte einer Begründung, die bislang noch nicht gefunden werden konnte".[39] Nach der hier vertretenen Ansicht ist die zu § 138 Abs. 1 BGB entwickelte Fallgruppe der Absicherung anerkannter Ordnungen betroffen, und zwar unter dem Blickwinkel des Sozialrechts.[40]

Demnach kann es anstößig sein, wenn jemand Sozialleistungen beansprucht, zugleich aber die gesetzlich vorgesehene Zugriffsmöglichkeit des Sozialhilfeträgers auf eigenes Vermögen durch eine entsprechende rechtsgeschäftliche Gestaltung gezielt zu vereiteln versucht. Hierauf beruht etwa die überzeugende Judikatur des Familiensenats des BGH[41] zur Sittenwidrigkeit von Unterhaltsverzichten in Scheidungsvereinbarungen, die das Nachrangprinzip aushebeln sollen.[42] Ein weiteres Beispiel bietet ein Urteil des VG Gießen zur Geltendmachung eines vormerkungsgesicherten Anspruchs auf unentgeltliche Rückübertragung eines Grundstücks, um den Zugriff des Sozialhilfeträgers zu vereiteln.[43]

Die Generalklausel des § 138 Abs. 1 BGB bildet somit ein Bindeglied zwischen dem Sozialrecht und dem Erbrecht. Wendt will nun die Rechtsprechung des Erbrechtssenats auf die Formel bringen, dass Beschränkungen des Erbrechts "einer eindeutigen, zumindest gleichrangigen Rechtsgrundlage"[44] bedürfen. Ganz unabhängig davon, wie man nun im Ergebnis die Wertungsfrage der Sittenwidrigkeit beantwortet, begegnet diese Formel gewissen Bedenken. Zum einen lässt sich die darin angesprochene Eindeutigkeit nicht als Argument dagegen vorbringen, dass eine Sittenwidrigkeitskontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB stattfindet. Vielmehr ist es gerade das prägende Kennzeichen jedweder Generalklausel, dass sie nicht eindeutig, d. h. abschließend und konkret, auf das jeweils zu beurteilende Rechtsgeschäft zugeschnitten ist, sondern einer richterlichen Konkretisierung im Einzelfall bedarf.

Was zum anderen die Gleichrangigkeit angeht, so lässt sich nicht in Zweifel ziehen, dass § 138 Abs. 1 BGB normhierarchisch auf derselben Ebene steht wie diejenigen Regeln des Erbrechts, von denen mit den hier interessierenden Gestaltungen (Pflichtteilsverzicht usw.) Gebrauch gemacht wird. Auch die durch Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG geschützte Testierfreiheit ist nur im Rahmen der allgemeinen Gesetze garantiert; das Erbrecht ist kein sub specie des § 138 Abs. 1 BGB "rechtsfreier Raum". Zutreffend hat Leipold den Ansatz des Erbrechtssenats, unter Hinweis auf eine "negative Erbfreiheit" diese einfachgesetzliche Schranke gleichsam verfassungsrechtlich auszuhebeln, als "kühne Neuerung"[45] ohne dogmatisches Fundament kritisiert und auf einschneidende Konsequenzen hingewiesen, wenn man diesen Ansatz weiterdenkt. Auch der "eherne Grundsatz der Privatautonomie",[46] den allgemein Art. 2 Abs. 1 GG schützt, findet nicht allein in der Verfassung oder in Spezialgesetzen, sondern gerade auch in § 138 Abs. 1 BGB eine bedeutsame Grenze.

[39] Wendt, ZErb 2012, 313, 318.
[40] Eingehend Armbrüster, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2012, § 138 Rn 40 ff, 45.
[41] BGHZ 111, 36, 39 ff = NJW 1990, 2055, 2056.
[42] S. nur BGH NJW 2007, 904, 906 Rn 22.
[43] VG Gießen NJW 2000, 1515, 1516 m. krit. Anm. J. Mayer, DNotZ 2001, 786 ff.
[44] Wendt, ZErb 2012, 313.
[45] Leipold, ZEV 2011, 528; s. auch Röthel, LMK 2011, 317533.
[46] Wendt, ZErb 2012, 313, 320.

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