In der Entscheidung vom 27.6.2012 nähert sich der BGH der Frage, ob ein Pflichtteilsrecht des Enkels bei Erbverzicht des vom Erblasser abstammenden Elternteils des Enkels vorliegen kann, wenn der Elternteil später zum Erben eingesetzt wird, nicht von diesem systematischen Ansatz her. Der BGH bejaht für diesen Fall das Vorliegen eines Pflichtteilsrechts in der Enkelgeneration und stellt teleologische Überlegungen zu § 2309 BGB ins Zentrum seiner Erwägungen:[8]

Aufgrund von § 2346 Abs. 1 Satz 2 Hs. 1 BGB gelte die Mutter der Klägerin als vorverstorben, sodass ihre Tochter an ihrer Stelle pflichtteilsberechtigt sei. Die Tochter der Erblasserin hat im vorliegenden Fall nur für sich selbst, nicht aber für den ganzen Stamm, auf das Erbrecht verzichtet. Dadurch kommt grundsätzlich ein Pflichtteilsrecht in der Enkelgeneration infrage.[9]

Bis zu diesem Punkt ist der Argumentation des BGH zuzustimmen.

Das Pflichtteilsrecht der Enkel könne aber durch die Anwendung des § 2309 Alt. 2 BGB wieder entfallen sein, wenn es sich um den Fall handelte, in dem der Abkömmling, der die entfernteren Abkömmlinge von der Erbfolge ausschließen würde, "das Hinterlassene" angenommen hätte.[10] Ob es sich in einem Fall des Erbverzichts mit späterer Erbeinsetzung des Verzichtenden um einen Fall der Annahme des "Hinterlassenen" im Sinne von § 2309 Alt. 2 BGB handelt, ist in der wissenschaftlichen Literatur zu § 2309 BGB umstritten.[11] Der BGH geht davon aus, dass der Sinn und Zweck des § 2309 BGB sei, die Belastung des Erbteils durch mehr als nur ein Pflichtteilsrecht eines Stammes zu verhindern.[12] Er verneint daher die Anwendbarkeit des § 2309 Alt. 2 BGB und erkennt der Enkeltochter einen Pflichtteilsanspruch zu.

Die Annahme des BGH, das Gesetz verhindere das mehrfache Auftreten des Pflichtteilsrechts in einem Stamm, ist grundsätzlich richtig, bildet aber nicht das gesamte Regelungsinteresse des § 2309 BGB ab: Nicht nur Pflichtteilsrechte älterer Deszendentengenerationen schließen Pflichtteilsrechte jüngerer aus (3.), sondern auch Erbrechte älterer Generationen schließen Pflichtteilsrechte jüngerer Generationen aus (1. + 2. bzw. 4.). Durch die Systematik des Pflichtteilsrechts ist also eine Doppelbegünstigung eines Stammes in der Erbfolge nicht nur dadurch ausgeschlossen, dass innerhalb des Stammes nicht mehrfach ein Pflichtteilsrecht geltend gemacht werden kann, sondern auch dadurch, dass die Erbschaft innerhalb des Stammes das Pflichtteilsrecht im Stamm ausschließt.[13] Man könnte auch wie folgt formulieren: Wenn ein Stamm schon nicht durch mehrere Pflichtteilsrechte begünstigt sein soll, dann erst recht nicht mit Pflichtteilsrecht und Erbschaft.

[8] Auch die Vorinstanz, OLG München Urt. v.13.10.2010 – 27 U419/07, hat den Begriff des "Hinterlassenen" im Sinne des § 2309 BGB zum Kern der Betrachtungen gemacht.
[11] Vgl. BGH ZErb 2012, 238, 240; Röhl, DNotZ 2012, 724, 728; Lange in MüKo 5. Aufl. § 2309, Rn 16 f jeweils mit Nachweisen. Die Literatur konzentriert sich in ihrer Argumentation auf die Frage, ob eine Zuwendung an den Verzichtenden, die hinter der Höhe des Pflichtteilsanspruchs zurückbleibt, die Folgen des § 2309 Alt. 2 BGB auslöst.
[12] BGH ZErb 2012, 238, 240 f.
[13] Im Ergebnis wie hier: Röhl aaO. 728.

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