Das Regelungssystem im Sozialrecht, das die gegenläufigen Grundsätze der Subsidiarität und des Familienlastenausgleichs voneinander abgrenzen muss, enthält keine Vorschrift, die es dem Sozialhilfeträger ermöglicht, in jedem Fall mindestens auf den Pflichtteil des Leistungsbeziehers zugreifen zu können. Weder enthält es ein Verbot von Leistungsempfängern, auf ihren Pflichtteil zu verzichten, noch schreibt es einen Mindesterbteil für Leistungsempfänger vor, noch erklärt es Beschränkungen des Erbteils des Leistungsempfängers für unwirksam[120], noch setzt es in § 102 SGB XII denjenigen, dem der Erbteil des Behinderten als Nacherben zufällt, dessen Erben gleich.

Obwohl die Diskussion über Behindertentestamente seit 1975 geführt wird[121] und seit dem ersten Senatsurteil zum Behindertentestament[122] zwei Jahrzehnte vergangen sind, hat der Gesetzgeber die betreffenden Vorschriften des Sozialrechts nicht geändert. Nicht nur, aber spätestens bei der Überführung des BSHG in das SGB XII hätte Gelegenheit bestanden, die Senatsrechtsprechung zum Behindertentestament auf- und anzugreifen und dem Sozialhilfeträger wenigstens den Zugriff auf den Pflichtteil des Leistungsbeziehers oder auch dessen Vorerbteil zu sichern. Auch hat der Gesetzgeber den Sozialhilfeträger gerade mit Blick auf den Pflichtteilsanspruch des Leistungsbeziehers gegenüber anderen Gläubigern lediglich durch die Regelung in § 93 Abs. 1 Satz 4 SGB XII gegenüber § 852 Abs. 1 ZPO privilegiert.[123] Darüber hinaus ist jedoch nichts geschehen.

Daher besteht kein Anlass, die vom Gesetzgeber sehenden Auges unterlassene Erweiterung der Zugriffsmöglichkeiten gegenüber Eltern und Familien mit behinderten Kindern im Rahmen des § 138 Abs. 1 BGB nachzuholen und damit – ohne sozialgesetzliche Grundlage[124] – gleichsam im Wege des vorauseilenden Gehorsams das Pflichtteils- und Erbrecht zu ändern. So nachvollziehbar das Bestreben von Sozialhilfeträgern ist, gerade bei größeren Nachlasswerten einen Teil der von der Allgemeinheit getragenen Aufwendungen hereinzuholen, bleibt es Sache des Gesetzgebers, durch hinreichend bestimmte Vorschriften die schwierige – und äußerst kontrovers diskutierte – primär politische Frage zu beantworten, wie die mit der Betreuung und Eingliederung behinderter Menschen verbundenen Lasten zwischen der Allgemeinheit und den betroffenen Familien verteilt werden sollen. Ist eine solche Abgrenzung nicht hinreichend deutlich erkennbar, muss der eherne Grundsatz der PrIV atautonomie Geltung behalten,

Zitat

"dass gemacht werden darf, was nicht verboten ist (Art. 2 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG)."

Das Zivilrecht ist nicht der richtige Ort, um die Reichweite der Regressmöglichkeiten von Sozialhilfeträgern über die bestehenden Regelungen des Sozialrechts hinaus auszudehnen. Ebenso wenig dürfen sich die Gerichte dazu instrumentalisieren lassen, eine Verschärfung des Sozialhilferechts, zu der sich der Gesetzgeber bisher nicht durchringen konnte, über den schmalen Steg der Sittenwidrigkeit einzuführen.

Fazit: Bei den Gestaltungswegen zugunsten Behinderter erlaubt die Verzichtsavenue freie Fahrt; darüber transportierte Begünstigungen kommen beim Behinderten an.

[120] Vgl. hierzu den Vorschlag eines § 88 a BSHG von Kübler, Das sogenannte Behindertentestament unter besonderer Berücksichtigung der Stellung des Betreuers [1998], S. 142 f.
[121] Vgl. Wendt, ZNotP 2008, 2, 5.
[122] BGHZ 111, 36.
[123] Vgl. dazu das Senatsurteil vom 8. Dezember 2004 IV ZR 223/03 NJW-RR 2005, 369 unter II 2 d.
[124] Zum Vorbehalt hinsichtlich einer Veränderung der Gesetzeslage vgl. Wendt ZNotP, 2008, 2, 7 [unter II 2 c]: "Unverständlich ist uns daher, warum es trotzdem offenbar immer noch erst des mühsamen und kostenträchtigen Weges zu den Gerichten bedarf, um die vom Senat festgeschriebene Rechtslage bei unveränderter Gesetzeslage auch in den Verwaltungen durchzusetzen."

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge