Ausgangspunkt des bislang bestehenden Streits war das in der Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Senatsurteil zum Behindertentestament ergangene Urteil des VGH Mannheim[86], demzufolge der Verzicht eines Sozialleistungsbeziehers auf den Pflichtteil wegen dessen partieller Funktion als "Unterhaltsanspruch über den Tod hinaus" wie Unterhaltsverzichte von Ehegatten zulasten der Sozialhilfe nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig seien. Dass im Streitfall ein mit dem Tod des Erblassers bereits entstandener Pflichtteilsanspruch durch Erlass und Aufrechnung zum Erlöschen gebracht werden sollte[87], war für das Gericht nicht entscheidend.[88]

[86] NJW 1993, 2953, 2954 f.
[87] Für die Sittenwidrigkeit des Erlasses eines bereits entstandenen Pflichtteilsanspruchs auch Krauß, Überlassungsverträge in der Praxis [2006] Rn 90.
[88] Nach der Senatsrechtsprechung (BGHZ 134, 60, 64 ff) unterscheidet sich ein Pflichtteilsverzicht, der nur zu Lebzeiten des Erblassers wirksam geschlossen werden kann, aber hinsichtlich seines Geschäftsgegenstands und seiner wirtschaftlichen Bedeutung so wesentlich von einem nach dem Erbfall allein möglichen Erlass des entstandenen Pflichtteilsanspruchs, dass eine Umdeutung im Allgemeinen nicht in Betracht kommt. Dies macht auch eine differenzierte Betrachtung einer eventuellen Sittenwidrigkeit erforderlich.

a) Streitstand

Die überwiegende Literatur der 90er- und frühen 2000er-Jahre folgte dem VGH Mannheim jedenfalls dann, wenn es an einer adäquaten Gegenleistung fehlte, wobei unterschiedliche Anforderungen an die Bedürftigkeit des Verzichtenden und die diesbezügliche Kenntnis der Beteiligten gestellt wurden.[89] Neuerdings sind die Übertragbarkeit der Rechtsprechung zum Unterhaltsverzicht[90] und die Zugriffsvereitelung als alleiniges Motiv[91] vereinzelt als Argument für die Sittenwidrigkeit wiederentdeckt worden.

Dagegen verneint die weit überwiegende Auffassung insbesondere im jüngeren Schrifttum die Sittenwidrigkeit des Verzichts[92], unter anderem weil das Pflichtteilsrecht lediglich eine unsichere Erwerbshoffnung darstellt (aleatorische Natur, Wagnischarakter), und damit keine bestehende Erwerbsquelle aufgegeben wird. Zusätzlich wird auf das Motiv hingewiesen, den überlebenden Elternteil abzusichern.[93] Verstärkt werden allerdings die Wertungswidersprüche zu der anerkannten Gültigkeit von Behindertentestamenten betont, wenn Behinderten das Recht genommen wird, Zuwendungen abzulehnen.[94] Zu letzteren gehöre ich.

[89] VGH Mannheim NJW 1993, 2953, 2954 f; OLG Stuttgart NJW 2001, 3484 [unter II 2 c aa]; Juchem, Vermögensübertragung zugunsten behinderter Menschen durch vorweggenommene Erbfolge und Verfügungen von Todes wegen [2001], S. 132, 171; Lambrecht, Der Zugriff des Sozialhilfeträgers auf den erbrechtlichen Erwerb [2001], S. 172; Schumacher, Rechtsgeschäfte zulasten der Sozialhilfe im Familien- und Erbrecht [2000], S. 142 ff; Settergren, Das "Behindertentestament" im Spannungsfeld zwischen PrIV atautonomie und sozialhilferechtlichem Nachrangprinzip [1999], S. 28 ff; Köbl, ZfSH/SGB 1990, 449, 459 [unter II 3 c]; wohl auch van de Loo, MittRhNotK 1989, 233, 250; neuerdings: Dutta, FamRZ 2010, 841 [unter 4] und AcP 209 (2009) 760 [unter IV 1]; wohl auch Kleensang, RNotZ 2007, 22, 23; aufgrund der besonderen Umstände des Streitfalles Armbrüster, ZEV 2010, 88 [unter 3].
[90] Settergren aaO.
[91] Armbrüster, ZEV 2010, 88 unter 5.
[92] Wendt, ErbR 2010, 142, 146 f; ZErb 2010, 45, 48 ff und ZNotP 2008, 2, 9; Schotten in Staudinger, BGB [2010] § 2346 Rn 70 b; von Proff, ZErb 2010, 206 [unter III 2]; Vaupel, RNotZ 2010, 141 ff und RNotZ 2009, 497 [unter B I 2 c bb]; Jörg Mayer, ZEV 2007, 556, 559 [unter 2.8]; Krauß, Überlassungsverträge in der Praxis [2006], Rn 82; Littig/Jörg Mayer, Sozialhilferegress gegenüber Erben und Beschenkten [1999], Rn 177; Sturm, Pflichtteil und Unterhalt [1993], S. 177 ff, 186; wohl auch Engelmann, Letztwillige Verfügungen zugunsten Verschuldeter oder Sozialhilfebedürftiger 2. Aufl. [2001], S. 25 ff; im Streitfall: Bengel/Spall, ZEV 2010, 195 [unter 1] und Litzenburger, FD-ErbR 2010, 297734 [unter Praxishinweis Nr. 2].
[93] Bengel/Spall, ZEV 2010, 195 unter 1; Litzenburger, FD-ErbR 2010, 297734 unter Praxishinweis Nr. 2.
[94] Wendt aaO, insbesondere ErbR 2010, 142, 146 f.

b) Bundesgerichtshof 2011

Höchstrichterlich hat der Bundesgerichtshof 2011 ein klares Machtwort gesprochen.[95] Auf der Grundlage des nach wie vor unverändert geltenden Sozialrechts kann das Ergebnis kaum Erstaunen auslösen, Behinderten die gleichen Instrumente an die Hand zu geben, die Nichtbehinderte selbstverständlich benutzen dürfen. Von Erläuterungsinteresse ist nicht so sehr das – mittlerweile bekannte – Resultat, sondern – für die zu prognostizierende Behandlung weiterer Gestaltungswege – mehr, welche einfach-rechtlichen bis zu verfassungsrechtlichen Gründe der Senat dafür herangezogen hat.

Seine Ausgangsposition, dass der auch beim Verzicht im Zentrum stehende Sittenwidrigkeitsvorwurf nach den Wertungen des Behindertentestaments zu behandeln ist, läs...

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