Einführung

Die Frage, ob und wie sich eine latente Einkommensteuer auf stille Reserven im Nachlass auf den Pflichtteil auswirkt, ist noch nicht abschließend beantwortet.[1] Zunehmend wird dafür plädiert, die Rechtsprechung des BGH zum Zugewinnausgleich in das Pflichtteilsrecht zu übernehmen. Das überzeugt nicht. Denn die latente Einkommensteuerschuld ist eine latente Nachlasserbenschuld, die bei der Bewertung des Nachlasses nicht berücksichtigt werden kann. Sie wirkt sich erst und nur dann aus, nachdem sie entstanden ist, und mindert dann den Pflichtteil.

[1] Eine Auswahl zum Meinungsstand: Lange in MüKo/BGB, 6. Aufl., § 2311 BGB Rn 41; J. Mayer in Bamberger/Roth, 3. Aufl., § 2311 BGB Rn 8 a, 33; Riedel in Damrau/Tanck, Praxiskommentar Erbrecht, 3. Aufl., § 2311 BGB Rn 89; ders. in Mayer u. a., Handbuch Pflichtteilsrecht, 3. Aufl., § 5 Rn 108 ff; Soergel/Dieckmann, 13. Aufl., § 2311 BGB Rn 22; Palandt/Weidlich, 74. Aufl., § 2311 BGB Rn 4; Fleischer/Schneider, DStR 2013, 1736, 1737; Gast, NJW 1959, 2100; Gratz, DB 1987, 2421, 2425 f; Kröger, BB 1971, 647; Lorz, ZErb 2003, 302; Winkler, ZEV 2005, 89, 91; Schmid, ZErb 2015, 133; Sudhoff, NJW 1963, 421; Wollny, DStR 2012, 717, 717, 770; ders., Unternehmensbewertung für die Erbschaftsteuer, Rn 691 ff.

1. Die obergerichtliche Praxis

Die Rechtsprechung zu der Eingangsfrage lässt sich so zusammenfassen:

Die latente Einkommensteuerschuld[2] des Erben ist keine Nachlassverbindlichkeit.[3] Dennoch ist sie bei der Bewertung des Nachlasses zu berücksichtigen, wenn der Wert des Nachlasses nur durch Verkauf realisiert werden kann.[4] Gehört ein Unternehmen zum Nachlass, das nach dem Erbfall aufgegeben oder veräußert wird, muss die anfallende Einkommensteuer bei der Unternehmensbewertung berücksichtigt werden.[5]

Beim Zugewinnausgleich[6] wirkt sich die latente Einkommensteuer wertmindernd aus, und zwar immer, also unabhängig davon, ob eine Veräußerung beabsichtigt ist. Sie gehört zu den unvermeidbaren Veräußerungskosten, sowohl bei Unternehmen als auch bei anderen Vermögensgegenständen, wenn deren Veräußerung, bezogen auf die Verhältnisse am Stichtag, eine Steuerpflicht auslösen würde. Die Steuer ist nach den steuerlich relevanten Verhältnissen am Stichtag zu berechnen, weil auf diesen Zeitpunkt eine Veräußerung fingiert wird. Auf die Steuer, die bei einer künftigen Veräußerung tatsächlich anfällt, kommt es nicht an.

[2] Sie ist keine latente Steuer im Sinne von § 246 HGB, wo es um Bewertungsdifferenzen zwischen Handels- und Steuerbilanz geht.
[4] BGH v. 22.10.1986 Iva ZR 143/85, BGHZ 98, 382; v. 13.3.1991 IV ZR 52/90, NJW-RR 1991, 900; v. 14.10.1992 IV ZR 211/91, NJW-RR 1993, 131; v. 25.11.2010 IV ZR 124/09, ZEV 2011, 29 Rn 5; OLG Hamm v. 10.4.2014 10 U 35/13.

2. Problemaufriss

Jeder Veräußerungsgewinn wird nach der Formel berechnet: Veräußerungspreis – Erwerbskosten – Veräußerungskosten = Veräußerungsgewinn.

Veräußerungspreis ist der für den Vermögensgegenstand erzielte Preis. Bis zur Veräußerung kann er nur geschätzt werden; das nennt man üblicherweise Bewertung. Erwerbskosten sind die Anschaffungs- oder Herstellungskosten für den Gegenstand (vgl. § 253 HGB und § 6 EStG). Veräußerungskosten sind die Zahlungen des Veräußerers, die wirtschaftlich mit der Veräußerung zusammenhängen. Ist der Veräußerungsgewinn einkommensteuerpflichtig, erhöht er das zu versteuernde Einkommen, so er nicht selbständig besteuert wird, wie derzeit Kapitaleinkünfte mit der Abgeltungssteuer.

Der Nachlass ist ein Sondervermögen des Erben. Zwar ist auch er eine Rechts- und Sachgesamtheit, aber er ist, anders als ein Unternehmen oder ein Betrieb, keine wirtschaftliche Einheit. Deshalb wird sein Wert nicht im Ganzen ermittelt. Vielmehr werden die Nachlassgegenstände und die Nachlassverbindlichkeiten einzeln bewertet.[7] Im Ergebnis ist der Wert des Nachlasses gleich dem Saldo der Summe der Werte der Nachlassgegenstände abzüglich der Summe der Werte der pflichtteilsrelevanten Nachlassverbindlichkeiten.[8] Abzugsfähig sind die Erblasserschulden (§ 1967 Abs. 2, 1. Fall BGB). Auch die Erbfallschulden (§ 1967 Abs. 2, 2. Fall BGB) können abgezogen werden, die Vorrang vor dem Pflichtteil haben. Dazu gehören die Verpflichtungen aus Vermächtnissen und Auflagen nicht. Das ergibt sich aus § 327 Abs. 1 Nr. 2 InsO. Davon betroffen sind nicht nur die vom Erblasser angeordneten Vermächtnisse, sondern auch die gesetzlichen Vermächtnisse.[9]

Jede Bewertung erfolgt auf einen bestimmten Zeitpunkt. Nach § 2311 Abs. 1 S. 1 BGB ist das der Erbfall. Ein Ereignis, das nach dem Bewertungsstichtag[10] eintritt, kann nur berücksichtigt werden, wenn es eine bessere Beurteilung der am Stichtag gegebenen Ve...

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