Wer im Wege der steuerrechtlichen Ermittlung nicht mehr als 100.000 EUR jährlich erzielt, ist zwar nach dem Buchstaben des Gesetzes unterhaltsrechtlich nach wie vor unterhaltspflichtig; er wird aber sozialhilferechtlich nicht mehr in Anspruch genommen. Der Einsatz als Einkommen i.S.v. § 82 EStG wird vom bedürftigen Elternteil nicht mehr verlangt. Ein Rechtsträgerwechsel nach § 94 SGB XII findet konsequenterweise nicht mehr statt.

Das verursacht Wechselwirkungen zum Unterhaltsrecht. Das Verhältnis von materiellem Unterhaltsrecht (§§ 1601 ff. BGB) und dem Verzicht auf Sozialhilferegress (§ 94 Abs. 1a SGB XII) ist rechtstheoretisch und rechtssystematisch nicht wirklich durchdrungen.

Der unterhaltsrechtliche Bedarf von Eltern bestimmt sich nach § 1610 BGB nach der eigenen Lebensstellung, nicht etwa nach der gehobenen Lebensstellung eines unterhaltspflichtigen Kindes. Die Lebensstellung ist nicht unveränderlich, sondern passt sich auch den nachteiligen Veränderungen der Einkommensverhältnisse an. Sind die Eltern sozialhilfebedürftig geworden, beschränkt sich der Lebensstandard auf das Existenzminimum. Das Existenzminimum wird im Sozialhilferecht unter Geltung des Subsidiaritätsprinzips durch die Grundsicherung (§§ 19 Abs. 2, 41 ff. SGB XII) und die Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 19 Abs. 1 und 27 ff. SGB XII) abgesichert. In der Vergangenheit sollte über § 43 Abs. 5 SGB XII a.F. ein unterhaltsrechtlich aus bis zu 100.000 EUR errechneter Unterhaltsanspruch in Durchbrechung des Subsidiaritätsprinzips in der Grundsicherung aber nicht mehr als Einkommen angerechnet werden. Das macht eigentlich eine Nachrangigkeit der Grundsicherungsleistung als Einkommen im Unterhaltsrecht nötig.

Die zivilrechtliche Rechtsprechung hat sich mit dieser rechtlichen Gestaltung bereits in der Vergangenheit schwergetan und sich letztlich nicht anders zu helfen gewusst, als die sozialhilferechtliche Grundsicherungsleistung als eine Leistung zu betrachten, für die das sozialhilferechtliche Subsidiaritätsprinzip dann eben doch nicht gelten soll, so dass jeder Bedürftige vorrangig vor Unterhaltsansprüchen nach §§ 1601 ff. BGB immer erst einmal Grundsicherung nach §§ 41 ff. SGB XII in Anspruch nehmen muss. Dazu der BGH:

Zitat

"Nach § 1602 Abs. 1 BGB ist unterhaltsberechtigt nur, wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Zum unterhaltsrechtlich maßgeblichen Einkommen zählen grundsätzlich sämtliche Einkünfte, wenn sie geeignet sind, den gegenwärtigen Lebensbedarf des Einkommensbeziehers sicherzustellen. Dazu können auch dem Unterhaltsgläubiger zu gewährende Grundsicherungsleistungen gehören, wenn sie – anders als etwa Sozialhilfe- und Unterhaltsvorschussleistungen – nicht subsidiär sind. Nach § 43 Abs. 2 S. 1 SGB XII, der der bis zum 31.12.2004 geltenden, inhaltlich übereinstimmenden Vorschrift des § 2 Abs. 1 S. 3 GSiG entspricht, bleiben Unterhaltsansprüche der Leistungsberechtigten gegenüber ihren Kindern und Eltern unberücksichtigt, sofern deren jährliches Gesamteinkommen im Sinne des § 16 des Vierten Buches unter einem Betrag von 100.000 EUR liegt. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, erfolgen die Grundsicherungsleistungen nicht nachrangig. Sie sind mithin als Einkommen anzusehen und reduzieren den unterhaltsrechtlichen Bedarf des Leistungsempfängers, ohne dass es darauf ankommt, ob sie zu Recht oder zu Unrecht bewilligt worden sind."[1]

Hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Und so sieht es auch die Literatur:

Zitat

"Als primäre Leistung treten die verschiedenen Hilfen des SGB XII an die Stelle des Unterhalts. Unterhaltsberechtigten obliegt es wie schon bisher bei den Grundsicherungsleistungen auch die Hilfen nach den übrigen Kapiteln in Anspruch zu nehmen."[2]

Der zivilrechtliche Unterhaltsanspruch auf ein Existenzminimum gegenüber einem Kind, dessen Gesamteinkünfte 100.000 EUR nicht übersteigen, ist damit de facto abgeschafft, obwohl sich der Gesetzgeber im Zusammenhang mit dem Elternunterhaltsanspruch nicht genötigt sah, das Unterhaltsrecht zumindest aus Gründen der Rechtsklarheit anzupassen.

Dieser "Webfehler" setzt sich bei der unterhaltsrechtlichen Prüfung der Leistungsfähigkeit von Kindern und Geschwisterkindern, deren Gesamteinkommen höher als 100.000 EUR pro anno ist, fort, wie nachfolgend zu diskutieren sein wird.

[2] Schürmann, Angehörigenentlastungsgesetz FF 2020, 48 ff., 56.

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