Hinsichtlich der Motive der Erblasser und der sog. Nebenumstände, auch solcher außerhalb der Urkunde, erweisen sich Beweisaufnahmen in der gerichtlichen Praxis oft als schwierig. Häufig fehlt es hinsichtlich der Motive der Ehegatten an verlässlichen Erkenntnisquellen, sei es, weil die Errichtung des Testaments lange zurückliegt und schon deswegen Beweismittel nicht (mehr) aufgefunden werden können, oder weil es schlichtweg keine Beweismittel gibt, die Aufschluss über die Motive beider (!) Ehegatten im Errichtungszeitpunkt (!) geben könnten. Idealerweise wären dies Zeugen, denen gegenüber die Ehegatten Angaben über ihre Motive gemacht haben und die vom Ausgang des Erbscheinsverfahren nicht profitieren würden. Das könnte ein beurkundender Notar sein, wobei man dann erwarten würde, dass sich eine ausdrückliche Regelung der Wechselbezüglichkeit findet. Besondere Vorsicht ist bei späteren Äußerungen des überlebenden Ehegatten über (angeblich) gemeinsame Motive im Errichtungszeitpunkt geboten. Nicht selten hat sich dessen Interessenlage nachträglich verändert und die eingetretene Bindungswirkung wird als lästig empfunden. Auch "einseitige" Tagebuchaufzeichnungen sind nur von begrenztem Nutzen, da sie über die Motive des anderen Ehegatten nicht zwangsläufig und zutreffend Aufschluss geben. Feststellen lassen sich häufig noch Eigentums- und Vermögensverhältnisse, auch sonstige Besonderheiten wie beispielsweise eine schwere Erkrankung eines der Testatoren oder die Errichtung der Verfügung aus einem besonderen Anlass. Allein der Umstand, dass der überlebende Ehegatte neu testiert hat, spricht als Indiz sicherlich nicht gegen die Wechselbezüglichkeit.
Angesichts dieser Schwierigkeiten überrascht es nicht, dass die Praxis versucht, Fallgruppen zu bilden, um die Auslegung zu erleichtern. Auch wenn sich allgemeine Regeln kaum aufstellen lassen, weil die Lebenssituationen und Motive der Testierenden so vielfältig sind, sodass auch geringe Abweichungen in den Sachverhalten erhebliche Auswirkungen auf das Ergebnis der Testamentsauslegung haben können, lassen sich in der Rechtsprechung folgende Linien erkennen.
a. Gegenseitige Erbeinsetzung der Ehegatten
Der Fall, dass sich die Ehegatten lediglich gegenseitig als Erben eingesetzt und keine Erbeinsetzung für den Tod des Letztversterbenden vorgenommen haben (auch nicht durch ein späteres Testament), spielt in der gerichtlichen Praxis selten eine Rolle, obwohl er in § 2270 Abs. 2 Alt 1 BGB ausdrücklich geregelt ist. Der Grund dürfte darin liegen, dass die Frage der Bindungswirkung hier überhaupt nur dann eine Rolle spielt, wenn einer der Ehegatten schon für den ersten Erbfall neu testieren will und sich nicht zuvor auf dem Weg der §§ 2271 Abs. 1 S. 1, 2296 BGB von der wechselbezüglichen Verfügung gelöst hat. Problematisch dürfte hier allein der Fall sein, in dem der widerrufende Ehegatte noch vor dem Zugang der Erklärung beim anderen Ehegatten stirbt. Die notariell beurkundete Widerrufserklärung muss dem anderen Ehepartner zugehen, um wirksam zu werden. Stirbt der Widerrufende nach formgerechter Abgabe der Erklärung (aber vor deren Zugang beim anderen Ehegatten), wird der Widerruf mit Zugang einer Ausfertigung der Notarurkunde gleichwohl wirksam, vorausgesetzt, die Erklärung war zu diesem Zeitpunkt in einer Weise auf dem Weg, dass mit dem Zugang unter den gewöhnlichen Umständen alsbald zu rechnen ist.
b. Gegenseitige Erbeinsetzung der Ehegatten einschließlich gemeinsamer Kinder
Setzen sich die Ehegatten für den ersten Erbfall gegenseitig (zumindest) ein gemeinsames Kind als Schlusserben ein und regeln die Bindungswirkung ihrer Verfügungen nicht, geht die obergerichtliche Rechtsprechung überwiegend davon aus, dass der Ehegatte, der den anderen als Alleinerben einsetzt und damit die eigenen Kinder für den Fall seines Todes übergeht und enterbt (denn seine Schlusserbeneinsetzung der Kinder wird im Fall seines Vorversterbens gegenstandslos), dies in der Erwartung tut, der andere Ehegatte werde im Gegenzug dafür als Schlusserben des beiderseitigen Vermögens die Kinder einsetzen. Wer sein Vermögen letztendlich an die eigenen Kinder weitergeben will, sie aber trotzdem für ...