Nachdem also die Frage, ob § 207 BGB grundsätzlich der analogen Anwendung zugänglich ist, bejaht werden muss, ist anschließend zu prüfen, ob der normierte Hemmungstatbestand des § 207 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 BGB dem Fall der Vorsorgevollmacht nach Sinn und Zweck und systematischen Aspekten so stark ähnelt, dass eine Analogie geboten erscheint.

1. Sinn und Zweck der Norm

Nimmt man Sinn und Zweck des § 207 BGB in den Blick, ergibt sich zwanglos, dass der bei einem Missbrauch einer Vorsorgevollmacht zugrundeliegende Sachverhalt mit dem Lebenssachverhalt, der regelmäßig § 207 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 BGB zugrunde liegen wird, identisch ist und eine vergleichbare Interessenlage vorliegt.

Zwischen den in der Norm genannten Personen besteht ein familiäres oder sonstiges persönliches Näheverhältnis oder ein Verhältnis struktureller Über-/Unterlegenheit, was den Berechtigten davon Abstand nehmen lassen kann, klageweise gegen den Schuldner vorzugehen.[17] Mit den § 207 Abs. 1 S. 2 Nr. 3-5 BGB trägt der Gesetzgeber Konstellationen Rechnung, in denen der Gläubiger gegenüber dem Schuldner besonders schutzbedürftig ist. Es geht nicht darum, dass das familiäre Verhältnis oder die Nähebeziehung besonders geschützt werden soll, wie dies im Fall der Ehe im Vordergrund steht. Vielmehr steht im Fall der Vormundschaft, der Betreuung oder der Pflegschaft im Vordergrund, dass die Interessen von Mündel, Betreutem und Pflegling gegenüber dem Vormund, dem Betreuer und dem Pfleger besonders geschützt werden müssen.

Im Entwurf zum Schuldrechtsmodernisierungsgesetz[18] heißt es dazu:

Zitat

"Damit wird der in der Regel vorhandenen strukturellen Überlegenheit des Betreuers, Pflegers oder Beistands Rechnung getragen, die dazu führen kann, dass Ansprüche nicht geltend gemacht werden. … Im Rahmen eines Betreuungsverhältnisses, einer Pflegschaft oder einer Beistandschaft gibt es normalerweise kein dem Verhältnis zwischen Eltern und Kindern und dem Vormund und dem Mündel vergleichbares Näheverhältnis, das der Gläubiger vor Störungen durch die klageweise Geltendmachung von Ansprüchen gegen den Schuldner bewahren möchte oder das zu einer Unterlegenheit des Gläubigers führt, die ihn an der rechtzeitigen Geltendmachung seiner Ansprüche hindert."

Trotzdem – also allein gestützt auf die Erwägung der strukturellen Überlegenheit – sieht der Gesetzgeber in § 207 Abs. 1 S. 2 Nr. 3-5 BGB eine Hemmung der Verjährung vor.

Dieser für den Betreuer, Pfleger oder Beistand geltende Telos der Norm muss auch für Fälle gelten, in denen der Vollmachtgeber als Gläubiger aufgrund des strukturellen Ungleichgewichts zwischen ihm und dem Vorsorgebevollmächtigten daran gehindert ist, seinen Anspruch gegen den ihn aufgrund einer Vorsorgevollmacht vertretenden Schuldner geltend zu machen. Die Vorsorgevollmacht ist in diesem Zusammenhang ein gleichwertig neben dem Betreuungsverfahren stehendes Mittel, mit dem sichergestellt werden kann, dass für eine krankheitsbedingt nicht mehr selbst am Rechtsverkehr teilnehmende Person durch einen Dritten vertreten Rechtsgeschäfte erledigt werden können. Die strukturelle Überlegenheit des Bevollmächtigten ergibt sich in gleicher Weise und gleichem Maß aus der Betreuungsbedürftigkeit des Vollmachtgebers, wie sie auch beim Betreuten zu sehen ist.

Zusätzlich ist mit Blick auf die zitierte Erwägung des Gesetzgebers, nach der die Rechtsprechung bei "der Ehe und Familie vergleichbaren Näheverhältnissen" den Anwendungsbereich des § 207 BGB weiter entwickeln soll, festzuhalten, dass eine Vorsorgevollmacht regelmäßig gerade solchen Personen erteilt wird, zu denen ein besonderes Näheverhältnis besteht. Es treffen also im Fall der Vorsorgevollmacht beide Erwägungen des Gesetzgebers zu: Es liegt regelmäßig eine strukturelle Überlegenheit des Schuldners gegenüber dem Gläubiger vor (wie auch bei Vormundschaft, Betreuung oder Pflegschaft). Und es besteht regelmäßig ein familiäres Näheverhältnis, das Grundlage für die Erteilung der Vorsorgevollmacht und Grund dafür ist, einen vom Betreuungsgericht bestimmten Betreuer vermeiden zu wollen.

[17] Meller-Hannich, in: BeckOK-BGB, 1.9.2019, § 207 Rn 2.
[18] BGB-E, BT-Drucks 14/6040, 119.

2. Systematik

a) Vorsorgevollmacht vom Gesetzgeber anerkannt

Der Begriff der "Vorsorgevollmacht" ist im Gesetz zwar nicht definiert. Allerdings hat der Gesetzgeber das Instrument der Vorsorgevollmacht an verschiedenen Stellen ausdrücklich anerkannt: So nimmt einerseits die Überschrift zu § 1901c auf den Begriff Bezug. Andererseits sieht § 285 FamFG vor, dass die Herausgabe einer Abschrift der Vorsorgevollmacht durch das Betreuungsgericht per Beschluss angeordnet werden kann. Bei der Vorsorgevollmacht handelt es sich also um ein Instrument, das in seiner legislativen Bedeutung gleichrangig neben der Betreuung, der Pflegschaft oder der Vormundschaft steht. Bei systematischer Betrachtung ist also sowohl der Lebenssachverhalt der Betreuung wie auch der der Vorsorgevollmacht gesetzlich geregelt. Wenn der Gesetzgeber das Instrument der Vorsorgevollmacht allerdings an diesen Stellen bereits ausdrücklich anerkannt hat, können aus systematischer...

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