Zunehmend spielen auch in der Rechtsprechung des BGH Fragen im Zusammenhang mit Corona/COVID-19 eine Rolle, so auch im Beschluss des BGH v. 17.11.2020 (4 StR 390/209). Zu entscheiden hatte der BGH über eine Revision gegen ein Urteil des LG Chemnitz. Mit der Revision war mit Verfahrensrüge u.a. ein Verstoß gegen § 169 GVG – Öffentlichkeitsgrundsatz – geltend gemacht worden. Grundlage der Rüge war folgendes Verfahrensgeschehen: Mit Allgemeinverfügung vom 22.3.2020 hatte das Sächsische Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt anlässlich der Coronavirus-Pandemie auf der Grundlage des IfSG (Infektionsschutzgesetz) mit Wirkung vom 23.3.2020 eine Allgemeinverfügung erlassen, wonach das Verlassen der häuslichen Unterkunft ohne triftigen Grund untersagt wird. Nr. 2 der Allgemeinverfügung enthielt die Aufzählung bestimmter Tätigkeiten, die „insbesondere” triftige Gründe darstellen, darunter in Nr. 2.9 die Wahrnehmung unaufschiebbarer Termine bei Behörden, Gerichten, Gerichtsvollziehern, Rechtsanwälten und Notaren. Während der Gültigkeit dieser Allgemeinverfügung verhandelte das LG Chemnitz am 25., 26. und 31.3.2020. Der Angeklagte war der Auffassung, dass am Verfahren unbeteiligten Zuhörern an diesen Sitzungstagen aufgrund der Allgemeinverfügung vom 22.3.2020 der Besuch der Hauptverhandlung untersagt gewesen sei. Um einen Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit zu vermeiden, hätte das Landgericht die Hauptverhandlungstermine aufheben müssen.

Das hat der BGH anders gesehen. Es könne dahinstehen, welche Bedeutung dem Umstand zukommt, dass der Erlass der Allgemeinverfügung nicht im Einflussbereich der Justiz lag. Jedenfalls besteht nach der Allgemeinverfügung kein Verbot, als Zuhörer an Hauptverhandlungen teilzunehmen. Vielmehr stelle die Teilnahme als Zuhörer an einer öffentlichen Hauptverhandlung einen unbenannten triftigen Grund i.S.d. Allgemeinverfügung dar (vgl. OLG München, Beschl. v. 30.3.2020 – 2 Ws 387/20 u. 338/20, NStZ 2020, 503; Meßling in: Schlegel/Meßling/Bockholdt, COVID-19 – Corona-Gesetzgebung – Gesundheit und Soziales, § 20 Rn 60). Der in § 169 GVG niedergelegte Öffentlichkeitsgrundsatz solle eine Kontrolle der Justiz durch die am Verfahren nicht beteiligte Öffentlichkeit ermöglichen und sei historisch als unverzichtbares Institut zur Verhinderung obrigkeitlicher Willkür verankert worden (vgl. BVerfGE 133, 168, 217 f.). Angesichts dieser Bedeutung der grundsätzlichen Öffentlichkeit eines Strafverfahrens, die auch dadurch belegt werde, dass ein Verstoß gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens einen absoluten Revisionsgrund gem. § 338 Nr. 6 StPO darstelle, stehe außer Frage, dass das Verlassen der häuslichen Unterkunft zur Teilnahme an öffentlichen Gerichtsverhandlungen einen triftigen Grund begründet, der der Ausnahmeregelung der Nr. 2 der Allgemeinverfügung vom 22.3.2020 unterfalle.

 

Hinweis:

Unstreitig ist die vom BGH vertretene Auffassung nicht (vgl. a.A. Kulhanek NJW 2020, 1183, 1184; Arnoldi NStZ 2020, 313, 315). M.E. geht die Aussage in ihrer Allgemeingültigkeit auch ein wenig weit. Will der BGH wirklich vertreten, dass die Teilnahme an einer öffentlichen Gerichtsverhandlung – als Zuschauer – nicht gegen ein ggf. bestehendes strenges Ausgangsverbot verstößt? Der 5. Strafsenat des BGH hat aber inzwischen wie der 4. Strafsenat im Beschl. v. 17.11.2020 entschieden (vgl. Beschl. v. 6.1.2021 – 5 StR 363/20).

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