Der Gesetzgeber hatte mit dem Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009 die Vorschrift des § 257c StPO eingeführt und damit versucht, zuvor informelle Absprachen ("Deals") in zulässige formelle Absprachen ("Verständigungen") zu verwandeln. Gleichzeitig sollte die’Quadratur des Kreises ermöglicht werden, da einerseits an der Wahrheitsermittlungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) festgehalten wurde, andererseits der Vorteil der Absprache für die Justiz aber gerade in einer Verkürzung der Verfahrensdauer, d.h. vor allem der Beweiserhebung – mithin Abstrichen der Wahrheitsermittlung – liegen und der Vorteil für den Angeklagten die Erlangung eines Strafrabattes (v.a. durch ein Geständnis) sein soll.

Mit Urteil vom 19.3.2013 hat das BVerfG (2 BvR 2628/10 u.a.) die Quadratur des Kreises bestätigt. Es hat als Leitsatz festgehalten: "Das im Grundgesetz verankerte Schuldprinzip und die mit ihm verbundene Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit sowie der Grundsatz des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens, die Unschuldsvermutung und die Neutralitätspflicht des Gerichts schließen es aus, die Handhabung der Wahrheitserforschung, die rechtliche Subsumtion und die Grundsätze der Strafzumessung zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten und des Gerichts zu stellen (...)" und darauf hingewiesen, dass das Verständigungsgesetz diese Vorgaben in ausreichender Weise sicherstelle. Weiter hat es festgestellt, dass der in erheblichem Maße defizitäre Vollzug des Verständigungsgesetzes derzeit nicht zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung führe.

Das wurde als Auftrag an den Gesetzgeber aufgefasst, das Verständigungsgesetz bzw. dessen Vollzug zu beobachten und zu evaluieren. Diese Evaluation ist abgeschlossen und die hierzu eingesetzte Forschungsgruppe (Altenhain, Jahn, Kinzig) hat deren Ergebnisse im November 2020 veröffentlicht (Altenhain/Jahn/Kinzig, Die Praxis der Verständigung im Strafprozess, 2020, Print und digital, www.nomos-elibrary.de ).

Gemessen an den Vorgaben des BVerfG müsste das Verständigungsgesetz nunmehr verfassungswidrig sein, denn der defizitäre Vollzug besteht weiterhin, d.h. es existiert eine "beachtliche Zahl informeller Absprachen, an denen alle drei Berufsgruppen mitwirken", freilich mit erheblichen Unterschieden zwischen Amts- und Landgerichten (s.’Altenhain/Jahn/Kinzig, a.a.O., S. 530 f.). Bei den Landgerichten seien "informelle Absprachen nicht so selten, wie es nach Angaben der Richter am Landgericht erscheint" (s.’Altenhain/Jahn/Kinzig, a.a.O., S. 536), und insgesamt werde "gegen alle Regelungen zur Verständigung verstoßen" (s. Altenhain/Jahn/Kinzig, a.a.O., S. 531).

Wenn als Grund dafür, dass die gesetzlichen Regelungen zur Verständigung bei den Amtsgerichten weniger beachtet werden, angenommen wird, dass dies in der Anzahl der Verfahren liegen soll, sodass es nicht möglich sei, in jedem Verfahren der Aufklärungspflicht vollumfänglich nachzukommen (s. Altenhain/Jahn/Kinzig, a.a.O., S. 530), so kann dies für viele Verfahren gelten, muss aber nicht zwingend sein. Ein weiterer Grund könnte sich daraus ergeben, dass viele Fälle beim Amtsgericht relativ klar sind, sodass nach Wahrnehmung der professionell beteiligten Akteure die’Sache auch informell erledigt werden kann. Jedenfalls ist eine Verständigung praktisch nur bei verteidigten Angeklagten zu beobachten, was wiederum problematisch sei, da – jedenfalls nach Meinung der Richter – der Angeklagte am meisten von einer Absprache profitiere (s. Altenhain/Jahn/Kinzig, a.a.O., S. 535).

Ob das BVerfG das Verständigungsgesetz aber tatsächlich für verfassungswidrig erklärt, ist zweifelhaft, denn insgesamt dürfte es zu einer erhöhten Einhaltung der gesetzlichen Vorschiften gegenüber 2013 gekommen sein.

Sofern der Gesetzgeber weitere gesetzliche Regelungen ergreifen wollte, um das Vollzugsdefizit zu vermeiden, ist darauf hinzuweisen, dass die Komplexität der bestehenden Regelungen und die Unübersichtlichkeit der Rechtslage (vgl. aktuell BGH, Beschl. v. 6.10.2020 – 2 StR 262/20) gerade Gründe für informelle Absprachen sind (s.’Altenhain/Jahn/Kinzig, a.a.O., S. 535).

Ebenso wenig sollte man Absprachen generell verbieten, denn – richtig angewendet – können diese sowohl zum Nutzen der Justiz als zum Nutzen des Angeklagten eingesetzt werden. Auch für das Opfer kann eine schnellere Erledigung aufgrund eines Geständnisses gegen Strafrabatt für den Täter (oft verbunden mit Auflagen zur Wiedergutmachung) nützlicher sein als die Ungewissheit einer längeren Verhandlung.

Wenn eine Verständigung aber faktisch nur bei verteidigten Angeklagten in Betracht kommt, sollte jedem unverteidigtem Angeklagten ein Pflichtverteidiger gestellt werden.

Die größte Gefahr der Wahrheitsfindung geht m.E. nach nicht von formellen Verstößen gegen das Verständigungsgesetz oder informellen Absprachen ("Deals") aus, sondern von materiell unzutreffenden Geständnissen im Rahmen einer formellen Absprache. Das dies vorkommt, liegt v.a. an der nicht ausreichenden Kont...

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