Auch im Jahr 2022 hatte sich der BGH mit den Voraussetzungen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fristsäumung zur Begründung eines Rechtsmittels auseinanderzusetzen (vgl. hierzu auch Rohwetter-Kühl, NJW 2022, 1990). Nach § 233 ZPO ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand u.a. zu gewähren, wenn eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert war, die Begründungsfrist einzuhalten. Dabei ist der Partei das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten zuzurechnen (§ 85 Abs. 2 ZPO). Um ein Verschulden auszuschließen, muss im Hinblick auf die Übertragung der Fristenberechnung und -notierung durch geeignete organisatorische Maßnahmen sichergestellt sein, dass Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden. Dazu gehört insb., dass Rechtsmittelfristen in der Handakte notiert werden und die Handakte durch entsprechende Erledigungsvermerke oder auf sonstige Weise erkennen lässt, dass die Fristen in den Fristenkalender eingetragen worden sind. Insofern muss ein Rechtsanwalt, wie der BGH nunmehr klargestellt hat, im Rahmen seiner Pflicht zur ordnungsgemäßen Büroorganisation seine Mitarbeiter klar anweisen, dass stets und unter allen Umständen zuerst die Fristen im Kalender einzutragen sind (BGH, Beschl. v. 29.6.2022 – XII ZB 9/22, ZAP EN-Nr. 673/2022 [Ls.] m. Anm. Prinz, NZFam 2022, 999; Mayer, FD-RVG 2022, 451535).

Zu den erforderlichen organisatorischen Vorkehrungen zählt nach dem BGH auch die allgemeine Anordnung, bei umfangreicheren Prozesshandlungen – wie z.B. einer Rechtsmittelbegründung – außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grds. etwa einwöchige Vorfrist zu notieren, um sicherzustellen, dass selbst bei Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen noch eine ausreichende Überprüfungs- und Bearbeitungszeit bis zum Ablauf der zu wahrenden Frist verbleibt (BGH, Beschl. v. 20.9.2022 – VI ZB 17/22, ZAP EN-Nr. 691/2022 [Ls.] m. Anm. Stein, IBR 2022, 3357). Weiterhin sollen Anwälte im Rahmen ihrer Überwachungspflichten bei Ablauf einer Vorfrist auch das vom Büropersonal notierte Ende der Berufungsbegründungsfrist kontrollieren müssen (BGH, Beschl. v. 22.11.2022 – VIII ZB 2/22; ähnlich zur Anfertigung einer Rechtsmittelschrift BGH, Beschl. v. 15.3.2022 – VI ZB 20/20). Allerdings dürfen an die Überwachungspflichten auch nicht zu hohe Anforderungen gestellt werden. So ließ der BGH es ausreichen, dass ein Prozessbevollmächtigter im Fall einer von ihm erkannten Falschadressierung die Bürokraft angewiesen hatte, den richtig adressierten Schriftsatz zu versenden, und den falsch adressierten Schriftsatz zu vernichten (Beschl. v. 15.12.2021 – IV ZB 11/21).

Anweisung und Organisation entbinden Rechtsanwälte gleichwohl nicht von ihren eigenen, anwaltlichen Sorgfaltspflichten. So haben sie – wie der BGH erneut bestätigt hat – den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen immer eigenverantwortlich zu prüfen, wenn ihnen die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Verfahrenshandlung, insb. zu deren Bearbeitung, vorgelegt werden (BGH, Beschl. v. 19.10.2022 – XII ZB 113/21). Gleiches gilt, wenn ein elektronischer Schriftsatz zur qualifizierten elektronischen Signierung (erneut) vorgelegt wird. Dieser muss sorgfältig auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft werden (BGH, Beschl. v. 8.3.2022 – VI ZB 78/21, ZAP EN-Nr. 304/2022 [Ls.] m. Anm. Cosack, RDi 2022, 415; Mayer, FD-RVG 2022, 448033; Kaulartz, RDi 2022, 365; Toussaint, FD-ZVR 2022, 448098).

Im Rahmen der Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand hatte der BGH sich auch mit der Benutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) auseinanderzusetzen. Seit dem 1.1.2022 muss jegliche Korrespondenz von Anwälten mit Gerichten über einen sicheren elektronischen Übermittlungsweg erfolgen (vgl. § 130d ZPO, § 14b Abs. 1 FamFG, § 55d VwGO, § 46g ArbGG, § 65d SGG, § 52d FGO, § 32d StPO). Faktisch sind Anwälte damit zur aktiven Nutzung des beA (§ 31a BRAO) verpflichtet. Andernfalls sind Prozesserklärungen nichtig (BT-Drucks 17/12634, S. 27), selbst wenn sie auf anderem Wege übermittelt werden (vgl. BFH, Beschl. v. 23.8.2022 – VIII S 3/22 m. Anm. Hamster, DStRK 2022, 294; Werth, HFR 2022, 1142).

Im Berichtszeitraum konnten bereits einige offene Fragen zum beA durch die Rechtsprechung geklärt werden. Ein umfassender Überblick über die Rechtsprechung zum beA findet sich bei Bacher, MDR 2022, 1441 ff. und Cosack, ZAP 2023, 33 ff.; s. zu den Pflichten und der Nutzung auch Schultzky, MDR 2022, 201 ff. So entschied der BGH u.a., dass ein über das beA eingereichtes elektronisches Dokument erst dann gem. § 130a Abs. 5 S. 1 ZPO wirksam beim zuständigen Gericht eingegangen ist, wenn es auf dem für dieses Gericht eingerichteten Empfänger-Intermediär im Netzwerk für das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) gespeichert wurde (Beschl. v. 30.11.2022 – IV ZB 17/22, ZAP EN-Nr. 63/2023 [Ls.]). Im konkreten Fall legte eine Prozesspartei gegen ein ihr zugestelltes Urteil des Landgerichts fristgerecht Berufung ein. Der Prozessbevollmächtigte übermit...

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