Nach § 231 Abs. 2 StPO kann die Hauptverhandlung ausnahmsweise ohne den Angeklagten fortgesetzt werden, wenn dieser der Hauptverhandlung eigenmächtig fern geblieben ist. Das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der "Eigenmacht" liegt vor, wenn der Angeklagte wissentlich und ohne Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe der weiteren Hauptverhandlung fern bleibt (vgl. BGHSt 56, 298 = StRR 2011, 424). Ein eigenmächtiges Ausbleiben ist dagegen zu verneinen, wenn der Angeklagte in dem Glauben ist, nicht zum Termin erscheinen zu müssen, etwa weil das Gericht ihm das Ausbleiben entweder gestattet oder den Anschein hervorgerufen hat, es sei mit seiner Abwesenheit einverstanden (vgl. BGHSt 37, 249, 252; 3, 187, 190; OLG Celle StraFo 2012, 140).

Mit den damit zusammenhängenden Fragen setzt sich der KG (Beschl. v. 10.4.2015 – (2) 121 Ss 58/15, StRR 2015, 344 m. Anm. Burhoff) auseinander. Dort war der Angeklagte, der der deutschen Sprache nicht mächtig war, nachdem er zur Anklage vernommen war, zum darauf folgenden Fortsetzungstermin erschienen. Nachdem das Gericht das Fehlen eines Dolmetschers bemerkt hatte, wurde der Angeklagte vom Vorsitzenden gefragt, ob er nicht bereit wäre, den Saal zu verlassen. Da der Angeklagte dies nicht verstand, wandte sich – mit Einverständnis des Vorsitzenden – die Nebenklagevertreterin in spanischer Sprache an den Angeklagten, der daraufhin den Saal verließ. Die Sitzung wurde um 8.59 Uhr ohne den Angeklagten fortgesetzt. Sodann wurde ein Sachverständigengutachten verlesen. Danach ergänzte die Nebenklägerin ihren Adhäsionsantrag um einen weiteren Feststellungsantrag. Im Anschluss daran wurde die Sitzung um 9.05 Uhr beendet.

Das KG hat darin, dass das LG die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten fortgesetzt hat, einen gem. § 338 Nr. 5 StPO i.V.m. §§ 230 Abs. 1, 231 Abs. 2 StPO zur Aufhebung des Urteils führenden Rechtsfehler gesehen. Denn es hätten keine Gründe vorgelegen, welche ausnahmsweise die Fortsetzung der Verhandlung ohne den Angeklagten gestatteten. Eine Fortsetzung der Hauptverhandlung ohne den Angeklagten gem. § 231 Abs. 2 StPO sei nicht möglich gewesen. Denn dann hätte der Angeklagte der Hauptverhandlung eigenmächtig fern geblieben sein müssen. Das sei aber nicht der Fall. Vielmehr sei angesichts des Vortrags der Revision davon auszugehen, dass der Vorsitzende das Ausbleiben des Angeklagten nicht nur hingenommen, sondern – durch seine in Gestalt einer Frage formulierte Bitte – sogar selbst initiiert habe. Grund hierfür sei offenkundig gewesen, dass an diesem Verhandlungstag kein Dolmetscher zugegen gewesen sei und der Vorsitzende – zu Recht – eine Fortsetzung der Verhandlung scheute, da dies mit dem Anspruch des Angeklagten aus § 187 Abs. 1 S. 1 GVG unvereinbar gewesen wäre. Ebenso gesetzwidrig sei es jedoch gewesen, die erforderliche Heranziehung eines Dolmetschers dadurch zu umgehen, den Angeklagten zu bitten, den Saal zu verlassen. Zwar sei, nachdem der Angeklagte den Saal verlassen hatte, die Bestellung eines Dolmetschers überflüssig geworden. Doch sei das Vorgehen des Vorsitzenden in keiner Weise mit dem Recht und der Pflicht des Angeklagten zur fortdauernden Anwesenheit in der Hauptverhandlung (§§ 230 ff. StPO) in Einklang zu bringen. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass der Angeklagte der "Anregung" des Vorsitzenden letztlich widerspruchslos gefolgt sei und auch keiner der anderen Verfahrensbeteiligten – namentlich der Verteidiger und die Staatsanwältin – gegen eine solche Vorgehensweise Bedenken erhoben hätte. Denn die Anwesenheitspflicht des Angeklagten stehe grundsätzlich nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten; sie sei – vorbehaltlich einzelner, hier nicht einschlägiger Ausnahmeregelungen wie etwa §§ 231c, 233 StPO – einer "konsensualen Regelung" von vornherein nicht zugänglich (vgl. BGH NJW 1973, 522; OLG Brandenburg StraFo 2015, 70; OLG Hamm StV 2007, 571).

 

Hinweis:

Vergleichbare Verstöße – von denen es hoffentlich nicht zu viele gibt – müssen mit der Revision/Verfahrensrüge als ein Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO geltend gemacht werden. Entscheidend für den Erfolg der Revision ist, dass die Abwesenheit (des Angeklagten) sich auf einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung bezogen hat. Das war in dem vom KG entschiedenen Sachverhalt der Fall. Denn während der Abwesenheit des Angeklagten ist die Beweisaufnahme u.a. durch die Verlesung eines Sachverständigengutachtens fortgesetzt worden. Die Beweisaufnahme ist aber grundsätzlich ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung, ohne dass es auf die Dauer der Abwesenheit des Angeklagten ankommt (vgl. OLG Hamm NJW 1992, 3252; Meyer-Goßner/Schmitt, § 338 Rn. 37 m.w.N.).

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