Pflichtverteidigungsfragen spielen in der Praxis eine große Rolle. Die nachfolgenden Ausführungen stellen – im Anschluss an ZAP F. 22 R, S. 995, 998 ff. – die dazu in der letzten Zeit ergangenen Entscheidungen zusammen. Die Rechtsprechungsübersicht hat den Stand von Ende November 2018 und folgt einer alphabetischen Sortierung nach Stichworten (vgl. zu den Pflichtverteidigungsfragen ausführlich Burhoff, EV, Rn 2990 ff.; s. auch oben I. 3/II. 2. a).

  • Auswahlkriterien, Allgemeines

    Die Bestellung zum Verteidiger kann schon wegen der Absehbarkeit eines Interessenkonflikts abgelehnt werden, ohne dass es konkreterer Hinweise auf das Bestehen dieses Konflikts bedarf; ein solcher Interessenkonflikt ist bei der Verteidigung von mehreren Mitbeschuldigten durch Rechtsanwälte derselben Sozietät oder Bürogemeinschaft nach allgemeinen Gesichtspunkten grundsätzlich schon immer dann absehbar, wenn eine Anklage wegen einer gemeinsam begangenen Tat vorliegt. Nach den Umständen des konkreten Einzelfalls kann diese Gefahr ausgeräumt sein, was insbesondere auf der Grundlage des Einlassungsverhaltens der Beschuldigten zu überprüfen ist (OLG Bremen NStZ-RR 2018, 188 [Ls.]).

  • Bestellung, Schwere der Tat

    Für die Schwere der Tat stellt die Rechtsfolgenerwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe i.d.R. ein Beiordnungsgrund dar (KG StV 2018, 144 [Ls.]), die Straferwartung ab etwa einem Jahr stellt aber keine starre Grenze dar (KG StV 2018, 144 [Ls.]; vgl. auch Burhoff, EV, Rn 3144 ff.). Die Grenze von etwa einem Jahr gilt auch dann, wenn sie durch eine erforderliche Gesamtstrafenbildung erreicht wird (KG a.a.O.; StraFo 2017, 153; s. auch LG Braunschweig, Beschl. v. 7.12.2017 – 4 Qs 206/17; LG Bremen, Beschl. v. 22.12.2017 – 61 Qs 344/17). Die Beiordnung eines Verteidigers ist auch bei einer drohenden Verurteilung zu weniger als einem Jahr Freiheitsstrafe geboten, wenn die Summe der im neuen Strafverfahren zu erwartenden Freiheitsstrafe und der wegen der neuen Verurteilung wahrscheinlich zu widerrufenen (Rest-)Strafen über einem Jahr liegt (OLG Naumburg StV 2018, 143 [Ls.]; ähnlich KG StV 2018, 144 [Ls.]). Die bei der Verurteilung zu Geldstrafe abstrakt bestehende Möglichkeit der späteren Vollstreckung als Ersatzfreiheitsstrafe ist für die Bewertung der Schwere der Tat grundsätzlich ohne Relevanz (KG StRR 1/2018, 2 [Ls.]). Ein schwerwiegender mittelbarer Nachteil kann sich überdies auch daraus ergeben, dass als Folge der Verurteilung der Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung in anderer Sache droht (KG StV 2018, 144 [Ls.]). Es ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn der Beschuldigte als Angehöriger des öffentlichen Dienstes aufgrund des anhängigen Ermittlungsverfahrens mit standes-/berufsrechtlichen Konsequenzen zu rechnen hat (AG Landshut, Beschl. v. 2.8.2018 – Gs 2927/18).

  • Bestellung, Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage

    Die Sachlage – Vorwurf des § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StGB – kann für den Angeklagten (Heranwachsender) dann als schwierig zu beurteilen sein, wenn ein Sachverständigengutachten das entscheidende Beweismittel gegen den Angeklagten darstellt (LG Braunschweig StV 2017, 725 = VA 2017, 123). Die Sachlage ist z.B. schwierig i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO, wenn es um die Beurteilung eines wiederholten Wiedererkennens aufgrund einer vorherigen Wiedererkennung auf dem Portal "Facebook" geht (LG Magdeburg StraFo 2018, 388 = StRR 8/2018, 2 [Ls.]) oder in den Fällen der Aussage-gegen-Aussage-Konstellation (LG Braunschweig, Beschl. v. 22.8.2017 – 3 Qs 74/17). Die Bestellung eines Pflichtverteidigers wegen "Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage" ist geboten, wenn der Angeklagte angesichts der Besonderheiten der Beweislage und der Verfahrenskonstellation sowie aufgrund des Umstands, dass Deutsch nicht seine Muttersprache ist, nicht in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen (LG Karlsruhe StraFo 2018, 196). Besonderheiten der Beweislage und der Verfahrenskonstellation sind gegeben, wenn sämtliche Zeugen und Geschädigte Polizeibeamte sind und es weitere Beweismittel nicht gibt. Bei dieser Sachlage kann eine sachgerechte Verteidigung, insbesondere das Aufzeigen von eventuellen Widersprüchen in den Angaben der Belastungszeugen, nur durch Kenntnis des gesamten Akteninhalts gewährleistet werden, eine umfassende Akteneinsicht kann aber nur dem Verteidiger gewährt werden (LG Karlsruhe a.a.O.).

    Einem Angeklagten ist ein Pflichtverteidiger wegen Schwierigkeit der Rechtslage auch dann zu bestellen, wenn sich Fragestellungen aufdrängen, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt (LG Hannover StV 2018, 155 = StRR 3/2017,1 3; s. auch schon OLG Brandenburg NJW 2009, 1287). Schwierig kann die Rechtslage auch sein, wenn es um die Frage geht, ob bestimmte Beweismittel einem Beweisverwertungsverbot unterliegen, was z.B. angenommen worden ist, wenn die Aufnahmen einer Dashcam als Entlastungsbeweis dienen sollen (LG Verden StraFo 2018, 69).

    Bei Freispruch des Angeklagten im ersten Rechtszug und Berufung der Staatsanwaltschaft mit dem Ziel ...

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