I. Anfahren vom Straßenrand

Der Fahrer des vom Straßenrand anfahrenden Fahrzeugs unterliegt der gesteigerten Sorgfaltspflicht des § 10 StVO, so dass bei einem Zusammenstoß mit einem Fahrzeug des fließenden Verkehrs von der vollen Haftung des Anfahrenden ausgegangen werden kann. Eine Mithaftung des Halters des vorbeifahrenden Fahrzeugs kommt aber stets dann in Betracht, wenn der Fahrer z.B. unaufmerksam oder mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist (BGH NJW 1971, 1983; OLG Frankfurt VersR 1999, 864; OLG Hamm DAR 1997, 275; Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 15. Aufl. 2017 Rn 85 f.). Bei einem Zusammenstoß mit einem anfahrenden Linienbus kommt i.d.R. eine Haftungsteilung in Betracht, da der Busfahrer trotz seines Vorrechts aus § 20 Abs. 5 StVO auf den fließenden Verkehr zu achten hat. Je nach den Umständen kann aber der überwiegende Haftungsanteil auf Seiten des vorbeifahrenden Kfz liegen (KG NZV 2010, 343 [67 %]; OLG Celle VRS 93, 401 [100 %]; zu weiteren Sonderfällen vgl. Grüneberg, a.a.O., Rn 88 f.).

II. Auffahrunfall

Bei einem Auffahrunfall ist im Grundsatz von der vollen Haftung des Auffahrenden auszugehen, da zumindest im Wege des Anscheinsbeweises unterstellt werden kann, dass der Auffahrunfall dadurch verursacht worden ist, dass der Fahrer des auffahrenden Fahrzeugs unaufmerksam oder mit unzureichendem Sicherheitsabstand zu dem vorausfahrenden Fahrzeug gefahren ist. Wie die nachfolgenden Fallgruppen zeigen, gilt dieser Grundsatz aber nicht uneingeschränkt.

1. Auffahrunfall auf stehendes Fahrzeug

Bei einem Zusammenstoß mit einem auf einer Autobahn stehenden Fahrzeug ist zu beachten, dass der fließende Verkehr hiermit wegen § 18 Abs. 8 StVO grundsätzlich nicht zu rechnen braucht. Gleichwohl ist eine Schadensteilung angebracht, wenn der Fahrer des auffahrenden Fahrzeugs den Unfall z.B. infolge fehlender Aufmerksamkeit oder nicht angepasster Geschwindigkeit mitverursacht hat. Je nach Fallgestaltung kann sein Mitverursachungsanteil dann sogar überwiegen (vgl. Grüneberg, a.a.O., Rn 90–100).

Bei einem Auffahrunfall auf einer sonstigen Straße ist i.d.R. von der Alleinhaftung des Auffahrenden auszugehen. Dies gilt insbesondere für die folgenden Unfallkonstellationen:

  • beim Anhalten zwecks Linksabbiegens (BGH VersR 1967, 585; OLG Düsseldorf VersR 1981, 68). Eine Mithaftung des Linksabbiegers wird allerdings dann in Betracht zu ziehen sein, wenn er durch einen Mittelstreifendurchbruch abbiegen will und noch zum Teil im Fahrbahnbereich zum Stehen gekommen ist (KG VersR 1975, 473 [50 %]; OLG Frankfurt VersR 1971, 1127 [33 %]).
  • beim Anhalten zwecks Aussteigens des Beifahrers (OLG Saarbrücken VM 1977, 71);
  • beim Anhalten aus sonstigen Gründen (KG VM 1985, 26).
 

Hinweis:

Allerdings kommt eine Mithaftung des anderen Verkehrsteilnehmers stets dann in Betracht, wenn dieser z.B. an einer ungünstigen Stelle (z.B. Kurvenbereich, Unübersichtlichkeit, schlechte Sicht- oder Lichtverhältnisse) angehalten hat oder bei Dunkelheit ungenügend beleuchtet war (OLG Hamm VersR 1984, 245 [33 %]; OLG Schleswig VRS 84, 197).

2. Auffahrunfall auf abbremsendes Fahrzeug

Bei einem Auffahrunfall auf ein abbremsendes Fahrzeug ist i.d.R. von der vollen Haftung des Auffahrenden auszugehen, wenn das Abbremsen verkehrsbedingt und angemessen, d.h. nicht unnötig abrupt, erfolgt (§ 4 Abs. 1 S. 1 StVO; zahlreiche Nachweise bei Grüneberg, a.a.O., Rn 110–131). Bei einem Auffahrunfall auf einer Autobahn kommt eine Mithaftung des vorausfahrenden Fahrzeugs vor allem dann in Betracht, wenn dieses erst kurz vor dem Unfall die Fahrspur gewechselt hat (OLG Hamm NZV 1994, 484 [75 %]; OLG Koblenz NZV 1993, 476 [50 %]). Bei einem Auffahrunfall auf einer sonstigen Straße kommt eine Mithaftung des abbremsenden Fahrzeugs insbesondere in folgenden Konstellationen in Betracht:

  • wenn sein Fahrer das Abbremsen eines vorausfahrenden Fahrzeugs zu spät bemerkt und deshalb selbst verspätet und abrupt abbremst oder wenn die Bremsleuchten nicht funktionieren (OLG Karlsruhe NJW-RR 2010, 96 [100 %]; OLG Schleswig VersR 1975, 673 [33 %]);
  • wenn sein Fahrer wegen eines einbiegenden Fahrzeugs abbremst, weil er fehlerhaft von der Verletzung seines Vorfahrtrechts ausgegangen ist (OLG Hamburg VersR 1967, 564);
  • wenn sein Fahrer wegen einer umschaltenden Verkehrsampel abbremst, nachdem er das auffahrende Fahrzeug erst kurz vorher überholt und sich dann vor dieses gesetzt hat (OLG Karlsruhe VersR 1987, 1020 [100 %]; OLG Nürnberg VersR 1977, 1016 [50 %]; s. auch OLG Saarbrücken NJW-RR 2014, 1371);
  • wenn sein Fahrer wegen eines Irrtums über die Ampelstellung abbremst (OLG Stuttgart VersR 1973, 325 [50 %]);
  • wenn sein Fahrer zwecks Links- oder Rechtsabbiegens nicht verkehrsgerecht abbremst, indem er z.B. nicht oder nicht rechtzeitig den Blinker setzt oder verbotswidrig abbiegt (BGH VersR 1969, 900 [20 %]; OLG Düsseldorf VersR 1976, 545 [50 %]; OLG Bamberg VersR 1971, 769 [33 %]; OLG Hamm NZV 2006, 584 [50 %]);
  • wenn sein Fahrer das später auffahrende Fahrzeug kurz zuvor überholt hat und nach dem Wiedereinordnen abbremsen muss (OLG Naumburg VRS 100, 173 [80 %]; OLG Karlsruhe VersR 1991, 1071 [100 %]);
  • wenn sein Fahr...

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