Der Kündigungsschutz des sozialen Wohnraummietrechts ist zweistufig ausgestaltet (ausführlich Sternel NZM 2018, 473). Zunächst benötigt der Vermieter ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses. Auf dieser Ebene bleiben die Interessen des Mieters unberücksichtigt. Liegt ein zur Kündigung berechtigendes Interesse an einer ordentlichen Kündigung des Mietverhältnisses vor, kann der Mieter sich in einer zweiten Stufe auf persönliche Härtegründe oder fehlenden Ersatzwohnraum berufen. Diese Interessen des Mieters sind dann mit den berechtigten Interessen des Vermieters, die zur Kündigung berechtigten, abzuwägen. Diese zweite Stufe spielte in der Vergangenheit in der Praxis so gut wie keine Rolle. Die meisten Fälle wurden über eine Räumungsfrist gem. § 721 ZPO gelöst. In Folge der zunehmenden Eigenbedarfskündigungen vor allem in angespannten Wohnungsmärkten war es eine Frage der Zeit, wann sich der BGH mit der "Sozialklausel" beschäftigen musste. Das hat der VIII. Senat Ende Mai 2019 in zwei Entscheidungen ausführlich getan, die die ganze Bandbreite der Probleme wiederspiegelten. Einmal ging es um eine Härtefallabwägung zu Lasten eines prekär untergebrachten Vermieters und das andere Mal um eine solche zu Lasten alter kranker Mieter.

Nach § 574 Abs. 1 S. 1 BGB kann der Mieter die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn dessen Beendigung für ihn, seine Familie oder seine Haushaltsangehörigen eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. Dabei kommt es nicht auf ein deutliches Überwiegen der Mieterinteressen an, es reicht ein "einfaches" Übergewicht der Belange der Mieterseite. Werden vom Mieter für den Fall eines erzwungenen Wohnungswechsels substantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren vorgetragen, so sind nach Ansicht des BGH (BGH ZAP EN-Nr. 509/2019 = MDR 2019, 858 = WuM 2019, 385 = MietPrax-AK § 574 BGB Nr. 4 mit Anm. Börstinghaus) die Tatsacheninstanzen verpflichtet sich mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann. Macht ein Mieter unter Vorlage eines Attests des behandelnden Facharztes geltend, ihm sei ein Umzug wegen einer schweren Erkrankung nicht zuzumuten, ist im Falle des Bestreitens dieses Vortrags regelmäßig von Amts wegen gem. § 144 ZPO ein Sachverständigengutachtens zu der Art, dem Umfang und den konkreten Auswirkungen der beschriebenen Erkrankung auf die Lebensführung des betroffenen Mieters im Allgemeinen und im Falle des Verlusts der vertrauten Umgebung erforderlich. Dabei sind nicht nur Feststellungen zu der Art und dem Ausmaß der Erkrankungen sowie den damit konkret einhergehenden gesundheitlichen Einschränkungen, sondern auch zu den konkret feststellbaren oder zumindest zu befürchtenden Auswirkungen eines erzwungenen Wohnungswechsels zu treffen, wobei im letzteren Fall auch die Schwere und der Grad der Wahrscheinlichkeit der zu befürchtenden gesundheitlichen Einschränkungen zu klären ist.

Bei der Auslegung und der Anwendung des § 574 BGB haben die Gerichte das Bestandsinteresse des Mieters und das Erlangungsinteresse des Vermieters angemessen zu berücksichtigen, die beiderseitigen Belange gegeneinander abzuwägen und in einen verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen. Bei der Bewertung und Gewichtung der widerstreitenden Interessen beider Parteien ist den Wertentscheidungen Rechnung zu tragen, die in den für sie streitenden Grundrechten zum Ausdruck kommen. Dabei ist auf Seiten des Vermieters stets das durch Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG gewährleistete Eigentum betroffen. Die grundrechtlich verbürgte Eigentumsgarantie greift auch dann ein, wenn der Vermieter die Eigenbedarfssituation willentlich herbeigeführt hat. Deshalb ist eine prekäre Wohnsituation des Vermieters und seiner Familie im Rahmen der Sozialklausel gleichbedeutend wie beim Eigenbedarf. Es darf nicht unterschieden werden zwischen den Interessen des ursprünglichen Vermieters und eines Erwerbers.

Die Gerichte können das Vertragsverhältnis befristet oder unbefristet fortsetzen. Dabei haben sie eine Prognoseentscheidung bezüglich eines möglichen Wegfalls der Härtegründe zu treffen. Falsch ist nach Ansicht des Senats die Annahme, die Gerichte hätten im Falle eines ungewissen Wegfalls einer bestehenden Härte zwingend eine unbefristete Fortsetzung des Mietverhältnisses anzuordnen. Nach den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers soll im Regelfall die Fortsetzung des Mietverhältnisses nur auf bestimmte Zeit erfolgen. Deshalb bedürfe es gerade in dem Fall, in dem auf Seiten des Vermieters dringender Wohnbedarf besteht, bei einem etwaigen Überwiegen der Mieterinteressen einer sorgfältigen Prüfung, ob eine Fortsetzung des Mie...

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