Bei dem Kläger des vorliegenden Verfahrens ist eine Schwerbehinderung (GdB 80) sowie das Merkzeichen G festgestellt. Er begehrt die Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung im Hinblick auf ein wechselndes Beschwerdebild am Oberschenkelstumpf, das ihm die Benutzung seiner Prothese lediglich an knapp über 10 % der Tage ermöglicht. Die Revision des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Berufungsgerichts war im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung erfolgreich (BSG, Urt. v. 11.8.2015 – B 9 SB 2/14 R).

 

Hinweis:

Schwerbehinderten Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung können nach § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO in Verbindung mit der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur StVO Parkerleichterungen dadurch gewährt werden, dass sie durch Ausnahmegenehmigungen von bestimmten Vorschriften der StVO befreit werden. Ferner ist dieser Personenkreis nach § 3a Kfz-Steuergesetz von der Kraftfahrzeugsteuer befreit, solange Fahrzeuge für schwerbehinderte Personen zugelassen sind.

Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung ist Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO. Danach ist außergewöhnlich gehbehindert i.S.d. § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeugs bewegen kann. Hierzu zählen:

  1. Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind – sog. Regelbeispiele –, sowie
  2. andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind.

Beim Vorliegen der in Nr. 1 angeführten Regelbeispiele wird vermutet, dass sich die dort aufgeführten schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs bewegen können. Nach dem Wortlaut und Zweck der Regelung kommt es dabei im Interesse einer leichten Handhabung in der Praxis nicht auf die individuelle prothetische Versorgung an, selbst wenn aufgrund eines hervorragenden gesundheitlichen Allgemeinzustands und hoher körperlicher Leistungsfähigkeit bei optimaler politischer Versorgung eine gute Gehfähigkeit besteht.

Der Kläger unterfällt nicht diesen Regelbeispielen, weil er nicht die Voraussetzung erfüllt, "dauernd außerstande" zu sein, eine Prothese zu tragen, was nur dann vorläge, wenn er prothetisch überhaupt nicht versorgt ist, also ständig bzw. immer außerstande wäre, ein Kunstbein zu tragen.

Nicht abschließend beurteilen kann das BSG, ob die Schwere der beim Kläger vorliegenden Beeinträchtigung dem Vorliegen eines Regelbeispiels gleichgestellt werden kann. Für die Gleichstellung ist am individuellen Restgehvermögen des Betroffenen anzusetzen. Diese Personengruppe ist nicht vom Halbsatz 2 ausgenommen, nur weil die beim Vorliegen der Voraussetzungen von Halbsatz 1 eintretende Vermutungswirkung nicht gegeben ist. Denn diese ersetzt lediglich die individuelle Prüfung der Voraussetzungen von Satz 1, die jedoch im Rahmen der Gleichstellungsprüfung nach Halbsatz 2 durchzuführen ist. Dabei lässt sich ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen weder griffig quantifizieren noch qualifizieren. Die maßgeblichen Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke sich ein schwerbehinderter Mensch außerhalb seines Kraftfahrzeugs wie oft und in welcher Zeit zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich "nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung". Wer diese Voraussetzungen praktisch vom ersten Schritt an außerhalb seines Kraftfahrzeugs erfüllt, qualifiziert sich für den Nachteilsausgleich "aG" auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt. Dabei können u.a. Art und Umfang schmerz- oder erschöpfungsbedingte Pausen von Bedeutung sein.

Ob die danach erforderlichen großen körperlichen Anstrengungen beim Gehen dauerhaft vorliegen, ist Gegenstand tatrichterlicher Würdigung, die sich auf alle verfügbaren Beweismittel, wie Befundberichte der behandelnden Ärzte, Sachverständigengutachten oder einen dem Gericht persönlich vermittelten Eindruck stützen kann. Das alleinige Abstellen auf ein einzelnes starres Kriterium stellt i.d.R. keine sachgerechte Beurteilung dar, weil es eine Gesamtschau aller relevanten Umstände eher verhindert.

 

Hinweis:

Ein an einer bestimmten Wegstrecke und einem Zeitmaß orientierter Maßstab liegt auch nicht wegen der Methode nahe, mit der die medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festgestellt wurden (s.o. IV. 1.). Denn für das Merkzeichen "aG" gelten gegenüber "G" nicht gesteigerte, sondern andere Voraussetzungen.

Das Gericht hat durch Urteil vom 16.3.2016 (B 9 SB 1/15 R, der Kläge...

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