Es kann des Guten zu viel sein. Auch für die höchstrichterliche Rechtsprechung gilt diese Volksweisheit. Liest man unbefangen in den Beitrag "Rechtliches Gehör für Querulanten" (ZAP Anwaltsmagazin 9/2015, S. 456) hinein, erweckt dies die amüsierliche Erwartung, in den Genuss einer lesenswerten Justizposse zu kommen: Ein hyperaktiver Vielprozessierer oder fehdegestimmter Bürger, welcher der Justiz provokativ auf der Nase herumtanzen möchte, torpediert diese mit nicht enden wollenden gleichförmigen Verfahren. Das birgt Stoff zum Schmunzeln.

Dringt man zum überraschenden Ende der pittoresken Geschichte vor, schlägt diese charmante Erwartung um: stattdessen Erstaunen, Nachdenklichkeit, Unverständnis bis zu dogmatischem Unbehagen. Von Justizhumor in einer Spezies Realsatire vor den Schranken des Gerichts keine Spur.

Das BSG hatte nämlich entschieden, dass hunderte Klageforderungen eines Strafgefangenen – zuvor durch einen sonstigen Beschluss des LSG als "offensichtlich haltlos" abgewiesen – sämtlich wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zur Entscheidung zurückverwiesen werden (Beschl. v. 12.2.2015 – B 10 ÜG 8/14 B).

Es gebietet sich, dem BSG den justiziellen Spiegel vorzuhalten, was es mit der massenhaften Rückverweisung und seiner extensiven Bewertung des rechtlichen Gehörs unter Berufung auf das Rechtsstaatsprinzip de facto bewirkt und insbesondere den Vorinstanzen auferlegt. Verschiedene Aspekte drängen sich auf, ob das BSG hinreichend kontextuelle Weit- und Umsicht bei seinem Beschluss hat walten lassen.

Der angeblich nützliche Fingerzeig an die Untergerichte, das Anfordern eines Gerichtskostenvorschusses unter Setzung einer Ausschlussfrist zur Vermeidung einer Klageflut, wirkt sich wenig hilfreich für den nicht lebensfremden Fall aus, es gäbe einen Rechtssuchenden, dem solches Anfordern und solcherlei Auflagen finanziell nichts ausmachen. "Querulanz" ist nicht an Mittellosigkeit geknüpft. Gerichtskosten im Sozialgerichtsverfahren sind, soweit sie anfallen, nicht nennenswert und kein hohes Hindernis für überbordende Prozesswütigkeit. Ist eine Teillähmung der Justiz durch eine Endlosquerele tolerabel?

Der Vorschlag des BSG entbehrt überzeugender Praktikabilität und Rechtsbeständigkeit. Die Frage einer Vorschussleistung ist im sozialgerichtlichen Verfahren gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt – das räumt das BSG selbst ein. Was das Gesetz nicht vorsieht und gleichwohl von Gerichten praktiziert wird, ist inzidenter oder eigenständig der richterlichen Kontrolle unterworfen. Ein findiger "Querulant" vermag den verfassungsrechtlich geschützten Gleichheitsgrundsatz bemühen, gegenüber anderen Rechtssuchenden durch eine gewillkürte Vorschussanforderung benachteiligt zu sein. Mehrstufiges Aufklärungsprocedere ist vorprogrammiert.

Kernfrage des Ganzen ist, wodurch jemand zum "Querulanten" wird und welche spezifischen Kriterien für eine demgemäße prozessuale Ausmusterung ausschlaggebend sind: Abstruse Klageinhalte, unbändiges Wiederkauen inhaltsgleicher Klagebegehren? Traumatisierte Ausweglosigkeit eines Langzeitgefangenen, jeder Vernunft abholde Hartnäckigkeit und Zähigkeit eines Rechtsanarchisten, professionelle Rechthaberei und ausschweifende Lust an Prozessgeschäften umsatzorientierter Anwälte oder was noch die Prozessakten an Details zum Charakter- und Schaubild "Querulant" hergeben mögen?

Immer setzt viel psychologisches, richterliches Rätselraten für eine wohlbegründete Realitätsbewertung ein, denn bei der gängigen Richterausbildung ist es in solchen Fällen ein schwieriges Unterfangen, plausible Tatsachen- und Rechtsfindung zu betreiben. Das gilt nicht nur für junge Richterinnen und Richter, die mangels Berufserfahrung gegen Ambivalenzen der Lebenswirklichkeiten zu kämpfen haben. "Offensichtliche Haltlosigkeit" der Klagebegehren ist, wenn auch summarisch, ein nachvollziehbares richterliches Votum, kein bloßer Selbstverteidigungsreflex gegen allzu krasse Arbeitsüberforderung.

Die Grundsatzentscheidung des BSG, denkt man sie in alle möglichen Richtungen zu Ende, beinhaltet allemal reichliches Arbeitsbeschaffungspotential für die Vorinstanzen, einbegriffen die Anwaltschaft – und als Bumerang die erneut denkbare Endstation BSG.

Der den Imperativen von sachgerechter Konzentration und vernunftgemäßer Wirtschaftlichkeit seiner Aktivitäten – bei Wahrung profilierter Solidität sowie Glaub- und Vertrauenswürdigkeit – verpflichtete Rechtsprechungsapparat darf sorgfältig nachhalten, wo verträgliche Grenzen im Einzelfall überschritten werden. In einem Beispiel wie dem vorliegenden, in welchem dem zur Debatte stehenden "Querulanten" medizinisch bescheinigt wird, er wisse, was er wolle, ihn kennzeichne wohl eine verfestigte Persönlichkeitsstörung, aber keine schwere psychische Erkrankung, besteht erst recht Anlass, seinem vorsätzlich und mit voller Ein- und Weitsicht gestimmten Treiben adäquat die Stirn zu bieten und seinen offenkundigen Schikanen der Justiz mangels berechtigten Interesses ein passendes Ende zu setzen. ...

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