Die Verurteilung eines Unschuldigen ist der größte anzunehmende Unfall im Strafverfahren. Er ist nicht so selten, dass man das Phänomen vergessen dürfte. Das Strafprozessrecht enthält Sicherungen. Es ist aber nach vielen Änderungen gegenüber den Reichsjustizgesetzen nicht mehr mit denselben Garantien versehen. Unterschiedliche Instanzenzüge waren zuerst vorgesehen, weil Kapitaldelikte von Geschworenengerichten mit einer zwölfköpfigen Geschworenenbank beurteilt wurden, die durch die Breite des Spruchkörpers eine zweite Tatsacheninstanz entbehrlich machte, während in anderen Fällen zwar eine geringere Zahl von (Berufs-)Richtern entschied, die aber durch Verdoppelung der Tatsacheninstanzen eine gewisse Sicherheit gegen Fehlgriffe erlangen sollte. Die Revisionsinstanz war auf reine Rechtsfehlerkontrolle beschränkt. Im Verfahren mit nur einer Tatsacheninstanz war andererseits eine gerichtliche Voruntersuchung vorgesehen, die Inhaltsprotokolle von frühzeitigen Vernehmungen hervorbrachte. Die Möglichkeit, eine Wiederaufnahme des Verfahrens wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel herbeizuführen, war als weiteres Element eines funktionalen Berufungsersatzes unterschiedlich ausgestaltet. Nach zwei Tatsacheninstanzen sollte sie in einer frühen Fassung des § 359 Nr. 5 StPO nur eingreifen, wenn auch der Angeklagte die Noven noch in der Berufungsinstanz nicht gekannt hatte. Im Rechtszug mit nur einer Tatsacheninstanz galt die Wiederaufnahmemöglichkeit uneingeschränkt.

Dieses austarierte Rechtsschutzsystem wurde stetig verändert, seit die Geschworenengerichte abgeschafft und durch Strafkammern ersetzt wurden, die anfangs mit fünf Berufsrichtern tagten, später auf drei Berufsrichter nebst Schöffen und heute meist auf zwei Berufsrichter und Schöffen reduziert sind, also auf das Quorum eines erweiterten Schöffengerichts. Zwischenzeitlich entfiel die gerichtliche Voruntersuchung. Nachdem die Wiederaufnahmemöglichkeiten gem. § 359 Nr. 5 StPO für beide Instanzenzüge nivelliert wurden, besteht kein überzeugender Grund mehr für deren Unterschiedlichkeit. In den 1960er und 1970er Jahren wurde vom Gesetzgeber erwogen, das Rechtsmittelrecht zu reformieren. Jedoch trat dann die richterrechtlich "erweiterte Revision" zu Tage, die mit dem Anspruch einer Verbesserung der Beweiskontrolle der Besorgnis unzureichender Korrekturmöglichkeiten entgegenwirkte. Eine Rechtsmittelreform blieb daher aus.

Die Zahl der Urteilskorrekturen wegen Fehlern der Beweiswürdigung durch die Revisionsgerichte ist jedoch gering geblieben (Geipel, Handbuch der Beweiswürdigung, 2. Aufl., S. 60 ff.). Sie verhindert, wie es jüngst der Fall Rupp exemplarisch zeigt (Eschelbach ZAP F. 22, 661 ff.; Nestler-Tremel ZIS 2014, 594 ff.), nicht, dass Fehlurteile in Rechtskraft erwachsen können. Zentrale Fehlerquellen sind falsche Verdachtsannahmen, die durch konfirmatorisches Hypothesentesten verstärkt, über die Stationen der Anklageerhebung und Eröffnung des Hauptverfahrens perpetuiert und zunehmend gegen Alternativhypothesen abgeschottet werden. Perseveranz-, Inertia- und Schulterschlusseffekte (Schünemann StV 2000, 159 ff.) führen auch dazu, dass im Wiederaufnahmeverfahren maximaler Widerstand gegen Urteilskorrekturen besteht (vgl. zur weltweiten Verbreitung der Wiederaufnahmefeindlichkeit, sogar bei Todesurteilen, Kato ZIS 2006, 354, 356 ff.). Am Ende steht die trügerische Vorstellung, dass revisionsgerichtlich kontrollierte Urteile nach Verwerfung eines Wiederaufnahmeantrags als richtig gelten.

Dabei wirkt es sich nachteilig aus, dass der Gesetzgeber den Erstrichter von der Mitwirkung im Wiederaufnahmeverfahren ausgeschlossen hat (§ 23 Abs. 2 StPO) und vorsorglich auch das Erstgericht auswechseln will (§ 140a GVG), um schon einem Anschein der Befangenheit zu begegnen. Dabei wurde vernachlässigt, dass Wiederaufnahmefeindlichkeit ein strukturelles Phänomen ist, während der Erstrichter immerhin am besten beurteilen konnte, ob das Wiederaufnahmevorbringen neu und dazu geeignet ist, seine bisherige Überzeugung von der Schuld zu erschüttern. Der Ersatzrichter kann dies mangels Dokumentation von Aussageinhalten nicht ebenso. Seine Zweifel wirken sich stets gegen Antragsteller aus, auch wenn eine Pannenkorrektur dem iudex a quo nahe gelegen hätte.

Fatal ist die mangels weiterer Zuständigkeit in Beschlussverfahren nach §§ 368, 370 StPO vom BGH fast irreversibel geäußerte Rechtsansicht, dass der Wiederaufnahmerichter bis zu einer Willkürgrenze an die Beurteilung der Beweisergebnisse durch das Erstgericht gebunden sei (BGHSt 18, 225, 226). Die Vorschriften über die Wiederaufnahme erlauben es dem Gericht danach nicht, in eine eigene neue Beweiswürdigung einzutreten (BGHSt 19, 365, 366). Seither eliminieren Wiederaufnahmegerichte die Noven isoliert, statt sie in eine autonome Gesamtschau einzustellen.

Dies führt dazu, dass selbst schwache Beweisgrundlagen des Ersturteils geeignet sind, die Noven ungeeignet erscheinen zu lassen. Die These der Bindung der Wiederaufnahmeinstanzen an die Bew...

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