Rz. 1

Sinn und Zweck des Pflichtteilsrechts ist es, den nächsten Angehörigen des Erblassers eine Mindestteilhabe an dessen Vermögen zu sichern. Deshalb setzt es der das deutsche Erbrecht im Übrigen prägenden Testierfreiheit Grenzen,[1] über die sich der Erblasser nicht hinwegsetzen soll. Tut er es doch, kann der benachteiligte Pflichtteilsberechtigte nach dem Tod des Erblassers die ihm zustehenden Ansprüche gegenüber dessen Erben geltend machen.

 

Rz. 2

Nur in Ausnahmefällen, wenn nämlich das familiäre Näheverhältnis zwischen Erblasser und Pflichtteilsberechtigtem nicht nur nachhaltig gestört ist, sondern durch schuldhafte Verfehlungen grob verletzt wurde, lässt der Gesetzgeber einen Ausschluss der vermögensmäßigen Mindestteilhabe des Pflichtteilsberechtigten zu.[2]

 

Rz. 3

Die Gründe, die eine Pflichtteilsentziehung rechtfertigen können, zählt das Gesetz in § 2333 BGB abschließend auf. Was unter diese Gründe nicht subsumiert werden kann, scheidet als Rechtfertigung einer Pflichtteilsentziehung aus. Daher kommt eine solche z.B. auch wegen einer dem Erblasser nicht genehmen religiösen Überzeugung des Pflichtteilsberechtigten ebenso wenig in Frage wie wegen seiner Trennung vom Lebenspartner oder wegen einer Ehescheidung. Gleiches gilt für die – begründete oder unbegründete – Anregung einer Betreuung für den Erblasser.[3]

Die bis Ende 2009 geltende Differenzierung zwischen der Pflichtteilsentziehung zu Lasten eines Abkömmlings auf der einen Seite und der Pflichtteilsentziehung zu Lasten der Eltern oder des Ehegatten auf der anderen Seite ist durch das Gesetz zur Änderung des Erb- und Verjährungsrechts entfallen.[4] Sie war weder (noch) zeitgemäß noch in ihren Auswirkungen nachvollziehbar.[5] Eine entsprechende oder analoge Anwendung auf ähnliche Fälle ist ausgeschlossen.[6] Mitunter erweist sich aber eine genaue Subsumtion als schwierig. Dies gilt umso mehr, als die relativ weitgefassten Pflichtteilsentziehungsgründe maßgeblich vom Vorverständnis bzw. Rechtsempfinden des Anwenders beeinflusst werden. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, wie im Spannungsfeld zwischen Pflichtteilsrecht und Testierfreiheit grundsätzlich abzuwägen ist.[7] Vielmehr fällt auch die Würdigung einzelner gesetzlich geregelter Tatbestände nicht immer leicht. Dabei ist mitunter die Frage zu stellen, ob dem Erblasser die Aufrechterhaltung des Pflichtteilsanspruchs noch zumutbar ist. Maßgeblich ist insoweit die konkrete Situation der betroffenen Familie.[8] So forderte bspw. der BGH konkret, dass bei einer vorsätzlichen körperlichen Misshandlung des Erblassers oder dessen Ehegatten (§ 2333 Nr. 2 BGB a.F.) im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Übermaßverbot stets eine Abwägung des Gewichts der Verletzungshandlung und der Bedeutung des Pflichtteilsverlusts zu erfolgen habe.[9] Diese restriktive Auslegung, die von einer Steigerungen der Anforderungen an die einzuhaltende Form begleitet wird,[10] lässt – wie Dieckmann zutreffend ausführt – das Entziehungsrecht in die Gefahr der "gesellschaftlichen Bedeutungsarmut kraft Richterrechts" geraten.[11] Vor diesem Hintergrund kann es aus der Sicht des Erblassers sinnvoll sein, sein Recht zur Pflichtteilsentziehung im Wege einer positiven Feststellungsklage ausdrücklich feststellen zu lassen.[12]

 

Rz. 4

In der Vergangenheit war die Frage, ob die Pflichtteilsentziehungsgründe überhaupt (noch) verfassungsgemäß seien, teils heftig umstritten.[13] Problematisch erschien insbesondere die Ungleichbehandlung der vorsätzlichen Misshandlung eines Kindes durch seine Eltern auf der einen Seite und der Eltern durch das Kind auf der anderen Seite.[14] Auch der Befund, dass zwar der Dirne (wegen ehrlosen und unsittlichen Lebenswandels), nicht aber dem Raubmörder der Pflichtteilsanspruch entzogen werden konnte,[15] erschien mit heutigen Wertvorstellungen unvereinbar.[16] Eine hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2000 nicht zur Entscheidung angenommen.[17] Nach zivilgerichtlicher Rechtsprechung stellt allein der Umstand, dass einem Pflichtteilsberechtigten wegen seiner Behinderung nicht der Pflichtteilsanspruch entzogen werden kann, um ein zum Nachlass gehörendes Unternehmen vor finanziellen Belastungen zu schützen, keinen Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG dar.[18]

 

Rz. 5

Schließlich entschied das Bundesverfassungsgericht aber am 19.4.2005[19] nicht nur, dass das Pflichtteilsrecht der Abkömmlinge grundsätzlich eine unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung am Nachlass des Erblassers darstelle und durch die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet sei. Es stellte darüber hinaus fest, dass auch die seinerzeit gültigen Bestimmungen des § 2333 Nr. 1 und 2 BGB a.F. (sowie die Regelung der Pflichtteilsunwürdigkeit, § 2345 Abs. 2 i.V.m. § 2339 Abs. 1 Nr. 1 BGB) verfassungskonform waren bzw. sind. Dies gelte auch hinsichtlich der erforderlichen Normenklarheit und Justiziabilität.

 

Rz. 6

Das Bundesverfassungsgericht ste...

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