Rz. 48

Die generalklauselartige Fassung des Abs. 1 führt zu Rechtsunsicherheit. Es ist im Vorhinein schwer zu prognostizieren, ob eine außerordentliche Kündigung vor Gericht Bestand haben wird. Die Rechtsprechung fordert eine vollständige und widerspruchsfreie Abwägung aller vernünftigerweise in Betracht kommenden Umstände.[1] Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar sei, sei in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen.[2]

Besonders bedeutsam sind im Rahmen der Interessenabwägung die Bindungsdauer des Arbeitsverhältnisses (s. Rz. 49 ff.), das Ausmaß der Vertragsstörung (s. Rz. 52 ff.) und die Dauer eines störungsfreien Verlaufs des Arbeitsverhältnisses (s. Rz. 53 ff.). Darüber hinaus können aber weitere Interessen zu berücksichtigen sein (s. Rz. 54 ff.).

4.2.4.1 Bindungsdauer

 

Rz. 49

Da die außerordentliche Kündigung nach Abs. 1 nur infrage kommt, wenn dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder dem vereinbarten Ende nicht zugemutet werden kann, ist diese Bindungsdauer maßgeblich für ihre Wirksamkeit. Entscheidend ist dabei stets die tatsächliche Bindungsdauer. Haben die Parteien in zulässiger Weise die Kündigungsfristen verlängert[1], sind jene zugrunde zu legen[2] Gleiches gilt für tariflich geregelte Kündigungsfristen.[3]

 
Hinweis

Für den gekündigten Arbeitnehmer kann sich eine hohe Unternehmenszugehörigkeit also einerseits privilegierend, andererseits aber auch nachteilig auswirken: Zwar ist sie im Rahmen der Interessenabwägung zu beachten und insofern zu seinen Gunsten zu gewichten (s. Rz. 49). Je länger die Unternehmenszugehörigkeit, desto länger ist allerdings auch die Kündigungsfrist (vgl. § 622 Abs. 2 BGB) und desto eher ist es deshalb dem Arbeitgeber unzumutbar, diese einzuhalten.[4]

 

Rz. 50

§ 626 Abs. 1 BGB setzt voraus, dass dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar ist. In Bezug auf den Arbeitgeber genügt es dabei, wenn ihm die Annahme der Arbeitsleistung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist einer ordentlichen Kündigung unzumutbar ist, denn der Arbeitnehmer hat grds. einen Beschäftigungsanspruch aus dem Arbeitsvertrag i. V. m. § 611 BGB und Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG. Das bedeutet auch, dass sich der Arbeitnehmer nicht darauf berufen kann, der Arbeitgeber habe ihn ordentlich kündigen und suspendieren können (hierzu Rz. 13).

 

Rz. 51

Bei ordentlich unkündbaren Arbeitnehmern ist die Zeit bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses naturgemäß lang. Die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses kann dem Arbeitgeber dann aus betrieblichen Gründen (ausnahmsweise) unzumutbar sein (sog. Orlando-Kündigung; s. hierzu Rz. 18 ff.).

[1] Hierzu Wege, § 622 Rz. 34 f.
[3] S. hierzu Wege, § 622 Rz. 22 ff.
[4] Vgl. ErfK/Niemann, § 626 BGB, Rz. 42.

4.2.4.2 Ausmaß der Vertragsstörung

 

Rz. 52

In Bezug auf das Gewicht und die Auswirkungen der Vertragsstörung gelten für die außerordentliche Kündigung im Großen und Ganzen ähnliche Regeln wie für die ordentliche Kündigung unter der Geltung des KSchG.[1] Zu würdigen ist, welche konkreten Störungen des Arbeitsablaufs eingetreten sind, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass vergleichbare Störungen erneut auftreten und weshalb und in welchem Maße das Vertrauensverhältnis Schaden genommen hat.

Dabei spielt zunächst der eingetretene Schaden eine maßgebende Rolle.[2] Es entlastet den Arbeitnehmer indes nicht, wenn ein Schaden mehr oder minder zufällig nicht eingetreten ist, das Risiko eines Schadenseintritts jedoch hoch war.[3] Ferner sind eine mögliche Wiederholungsgefahr, der Verschuldensgrad sowie ein etwaiges mitwirkendes Verschulden des Kündigenden zu würdigen.[4] Allerdings können auch mehrere fahrlässige Pflichtverletzungen schwerwiegend sein, wenn der Arbeitnehmer eine besondere Verantwortung trägt und sie zu hohem Schaden geführt haben und wenn hierdurch das zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses notwendige Vertrauen unheilbar zerstört ist.[5] Dabei ist allerdings auch ein vermeidbarer Rechtsirrtum zu beachten[6]; ein unvermeidbarer schließt ohnehin die Pflichtverletzung aus.

[1] Hierzu Liebscher, § 1 KSchG Rz. 426 ff.; zu Einzelfällen s. dort Rz. 463 ff.
[3] BAG, Urteil v. 20.10.2016, 6 AZR 471/15, NZA 2016, 1527, 1530, für den Fall eines Kraftfahrers, der unter Drogeneinfluss seine Tätigkeit verrichtet hat, ohne dass festgestellt werden konnte, ob dadurch seine Fahrtüchtigkeit konkret beeinträchtigt war, und ohne dass ein Unfall geschehen ist.

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