Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziale Pflegeversicherung. Begutachtungs-Richtlinien (BRi) des GKV-Spitzenverbandes. verwaltungsinterne Gesetzeskonkretisierung zur Verwirklichung des Gleichbehandlungsgrundsatzes. keine Bindungswirkung für Gericht. Nichtberücksichtigung bzw Ausschluss der Sehbeeinträchtigung im Modul 2 in den Kriterien F 4.2.1 bis F 4.2.8 der BRi. Widerspruch zu Wortlaut und Regelungszweck von § 15 SGB 11. sachwidrige Ungleichbehandlung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Richtlinie des GKV-Spitzenverbandes zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit sowie zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuchs (Begutachtungs-Richtlinien-BRi) in der Fassung vom 15. April 2016 (aF), zuletzt geändert durch Beschluss vom 22. März 2021, bindet das Gericht nicht. Die BRi ist eine verwaltungsinterne Gesetzeskonkretisierung zur Verwirklichung des Gleichbehandlungsgrundsatzes bei der Anwendung des SGB XI. Soweit sich die BRi innerhalb des durch Gesetz und Verfassung vorgegebenen Rahmens hält, ist sie als Konkretisierung des Gesetzes zur Vermeidung von Ungleichbehandlungen zu beachten.

2. Die Auslegung der BRi aF, die Sehbeeinträchtigung in Modul 2 in den Kriterien F 4.2.1 bis F 4.2.8 nicht zu berücksichtigen und der ausdrückliche Ausschluss in der neugefassten BRi, stimmen mit dem Wortlaut und dem Regelungszweck von § 15 SGB XI nicht überein. Körperliche, kognitive und psychische Beeinträchtigungen sollen anhand eines übergreifenden Maßstabs in ein Verhältnis gestellt werden, das die verschiedenen Arten von Beeinträchtigungen angemessen berücksichtigt und eine im Vergleich angemessene Einstufung sicherstellt. Es ist eine sachwidrige Ungleichbehandlung, den Sehbeeinträchtigten in den Kriterien F 4.2.2 und F 4.2.8 etwa im Vergleich zu dem dementiell Beeinträchtigten nicht zu berücksichtigen.

 

Tenor

1.

Der Bescheid der Beklagten vom 22. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. November 2020 wird geändert.

2.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegegrad 2 seit Antragstellung vom 22. Juni 2020 nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

3.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuchs - Soziale Pflegeversicherung - (SGB XI) nach Pflegegrad 2 beanspruchen kann.

Die 2006 geborene Klägerin bewohnt mit ihrer Familie ein zweigeschossiges Einfamilienhaus. Im Erdgeschoss befinden sich die Wohnräume und die Küche, im oberen Stockwerk die Schlafzimmer und das Bad. Dieses ist mit einer Eckbadewanne, einer ebenerdig begehbaren Dusche, einem unterbauten Waschbecken und einer Toilette ausgestattet.

Die Klägerin, die bei der Beklagten gesetzlich pflegeversichert ist, leidet an einem stark eingeschränkten Sehvermögen bei Verdacht auf eine Dystrophie der Zapfen und Stäbchen sowie an einer Adipositas permagna.

Die Klägerin beantragte am 22. Juni 2020 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung, woraufhin sie von der Sachverständigen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MD) Ma. am 16. Juli 2020 - coronabedingt nach Telefoninterview - befragt wurde. Die Gutachterin sah im Modul 4 bei den Ziffern 4.4.5, 4.4.6 und 4.4.10 und im Modul 6 in Ziffer 4.6.6. eine überwiegende Selbstständigkeit. In den anderen Modulen gelangte sie zu keinem gewichteten Punkt, was insgesamt zu 13,75 gewichteten Punkten führte.

Mit Bescheid vom 22. Juli 2020 stellte die Beklagte Pflegebedürftigkeit nach Pflegegrad 1 fest und bewilligte den Entlastungsbetrag.

Dagegen richtete sich der Widerspruch der Klägerin vom 6. August 2020, die ihren Hilfebedarf in dem Gutachten nicht ausreichend gewürdigt sah.

Die dazu nach Aktenlage gehörte Gutachterin des MD B. bestätigte am 9. September 2020 13,75 gewichtete Punkte, wobei sie - in Abweichung zur Vorgutachterin - im Modul 4 auch bei den Ziffern 4.4.4 und 4.4.7 eine überwiegende Selbstständigkeit sah, was an der Anzahl der gewichteten Punkte allerdings nichts ausmachte.

Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Bescheid vom 17. November 2020, zugestellt am 20. November 2020, zurück.

Dagegen hat sich die Klage vom 23. November 2020, am 24. November 2020 bei den Sozialgerichten für das Saarland eingegangen, gerichtet.

Die Klägerin verweist auf erhebliche Beeinträchtigungen in ihrer Selbstständigkeit und ihren Fähigkeiten, die aufgrund der telefonischen Exploration nicht ausreichend erfasst worden seien.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

1. den Bescheid der Beklagten vom 22 Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. November 2020 zu ändern;

2. die Beklagte zu verurteilen, ihr, der Klägerin, Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegegrad 2 ab Antragstellung nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Beschei...

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