Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziale Pflegeversicherung. Wohngruppenzuschlag. Abgrenzung ambulant betreuter Wohngruppen von stationären Hausgemeinschaften. gemeinsame Wohnung. Übergangsregelung des § 122 Abs 3 SGB 11

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ambulant betreute Wohngruppen sind von stationären Hausgemeinschaften abzugrenzen, dh von wohngruppenorientierten Betreuungsformen, die im Rahmen einer stationären Versorgung praktiziert werden. Maßgebliches Abgrenzungskriterium ist, dass die ambulante Leistungserbringung nicht tatsächlich weitgehend den Umfang einer stationären Versorgung erreicht, und damit eine Situation vermieden wird, in der der Anbieter einer Wohngruppe oder ein Dritter für die Mitglieder der Wohngruppe eine Vollversorgung anbietet (BT-Drucksache 18/2909 S 42).

2. Sinn und Zweck, Wohngemeinschaften zu fördern und ihre Gründung anzureizen, legen es nahe, die Anforderung an das Tatbestandsmerkmal der gemeinsamen Wohnung nicht zu eng zu gestalten und ein tatsächlich gemeinsames Wohnen ausreichend sein zu lassen.

 

Orientierungssatz

Bei einem Gleichbleiben der wesentlichen Strukturen des Zusammenlebens in der Wohngruppe kann nicht von einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse iS der Übergangsregelung des § 122 Abs 3 SGB 11 ausgegangen werden (hier: Pflegekraftwechsel und neue Mitbewohnerin).

 

Tenor

1. Der Bescheid der Beklagten vom 19. Februar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 2014 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin auf ihren Antrag vom 21. Mai 2013 einen Wohngruppenzuschlag nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

3. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Gewährung eines Wohngruppenzuschlages nach § 38a des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs - Soziale Pflegeversicherung - (SGB XI) in der Fassung des Pflegeneuausrichtungs-Gesetzes (PNG) vom 23. Oktober 2012 (BGBl. I 2012, 2246≪a.F≫).

Die 1957 geborene Klägerin erhält Leistungen der sozialen Pflegeversicherung bei häuslicher Pflege nach Pflegestufe II seit 1. April 1995. Bei der Klägerin bestehen seit Geburt eine geistige Behinderung und eine Epilepsie. Eine gesetzliche Betreuung ist angeordnet. Seit 1. Januar 2012 lebt die Klägerin mit fünf weiteren Personen mit Behinderung, nämlich Herrn S. H., Herrn M. G. Frau Y. R., Herrn C. S. und Herrn M. Vo. in einem Haus in der W. Straße in V., das die Wohngemeinschaft von der Lebenshilfe V. gGmbH, der Beigeladenen, gemietet hat. Die Klägerin lebt in einer Apartmentwohnung im Obergeschoss des Anwesens, die sie sich mit der Mitbewohnerin Y. R. teilt. Das Erdgeschoss wird von vier Männern bewohnt. Die Klägerin macht geltend, Mahlzeiten würden gemeinsam eingenommen, Freizeitaktivitäten zusammen geplant und durchgeführt. Pflege- und Unterstützungsleistungen würden personenindividuell in Abstimmung mit den anderen Bewohnern geplant und durchgeführt.

Die Klägerin nimmt, wie die übrigen Mitglieder der Wohngemeinschaft auch, pflegerische Leistungen, die die Beigeladene anbietet, in Anspruch. Bis 31. Mai 2014 war dafür die Mitarbeiterin der Beigeladenen, Frau Sp., als Pflegekraft eingesetzt; seither wird diese Tätigkeit durch die Pflegekraft Frau Kl. ausgeübt.

Die Wohngemeinschaft wird in Form einer Gesellschaft des bürgerlichen Rechts (GbR) betrieben (Gesellschaftsvertrag vom 10. Januar 2013). Die Gesellschaft führt den Namen “Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderungen„. Zweck der Wohngemeinschaft ist es, das gemeinschaftliche und selbstbestimmte Zusammenleben in den barrierefreien Wohnräumen der Beigeladenen zu ermöglichen. § 6 des Vertrages sieht vor, dass die Mitglieder verpflichtet sind, je nach ihrem persönlichen Bedarf für ausreichend Pflege- und Betreuungsleistungen Sorge zu tragen. Eine Verpflichtung, die Pflege- und Betreuungsleistungen von einem bestimmten Anbieter zu beziehen, besteht nicht. Die Neuaufnahme eines Mitglieds in die Wohngemeinschaft ist von der Mitgliederversammlung ausführlich zu beraten.

In dem Mietvertrag der GbR mit der Beigeladenen vom 3. April 2012 ist vorgesehen, dass die Räumlichkeiten ausschließlich zum Zweck des Betriebs einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderungen vermietet werden. Die Gesamtmietfläche, über zwei Stockwerke verteilt, beträgt 320 m² zuzüglich der anteiligen Nutzung eines Hauswirtschaftsraumes.

Die Gründung der Wohngemeinschaft und deren Realisierung wurden durch den Geschäftsführer der Beigeladenen, den Zeugen R. Sch., begleitet.

Die Klägerin schloss mit der Beigeladenen am 15. Januar 2012 einen Betreuungsvertrag.

Mit Bescheid vom 24. November 2010 kam das Ministerium für Arbeit, Familie, Prävention, Soziales und Sport zum Ergebnis, § 1 Abs. 2 Satz 2 Landesheimgesetz (LHeimGS) sei nicht einschlägig. Es sei nicht von einer vertraglichen Verpflichtung der Mitglieder auszugehen, Betreuungsleistungen von der Beigeladenen anzunehmen. Es bestehe vielmehr die Möglichkeit, den abgeschlossenen Betreuungsvertrag mit Einhaltung einer Kündigungsfrist zu...

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