Entscheidungsstichwort (Thema)

Wirtschaftlichkeitsprüfung in der vertragsärztlichen Versorgung. Zeitpunkt des Abschlusses und der Bekanntmachung von Richtgrößenvereinbarungen. Rechtswidrigkeit einer rückwirkenden Inkraftsetzung bei Verschlechterung der Rechtsposition des Vertragsarztes. Ermittlungspflichten der Prüfgremien. Darlegung von Praxisbesonderheiten bei der Unterbringung von Patienten in einem Pflegeheim

 

Orientierungssatz

1. Richtgrößenvereinbarungen sollen bereits vor Beginn des Jahres, für das sie gelten sollen, abgeschlossen und bekannt gemacht werden.

2. Diese Vorgabe begründet allerdings keine strikte Verpflichtung der Vertragspartner. Eine Rechtsfolge derart, dass die Vereinbarungen andernfalls nichtig wären, lässt sich den gesetzlichen Regelungen nicht entnehmen.

3. Ist keiner der Ausnahmefälle zulässiger echter Rückwirkung bzw Rückbewirkung von Rechtsfolgen gegeben, so ist die rückwirkende Inkraftsetzung von Richtgrößen rechtswidrig. Das gilt allerdings nur insoweit, als die neuen Richtgrößen die Rechtspositionen der Vertragsärzte verschlechtern. Sofern keine Verschlechterung eintritt, stellen die neuen Richtgrößen keinen Eingriff dar, und es fehlt an der Grundlage für die Annahme unzulässiger Rückwirkung.

4. Nach der Rechtsprechung des BSG - sowohl zur sog pauschalen statistischen Vergleichsprüfung anhand von Durchschnittswerten als auch zur Richtgrößenprüfung - ist von der Richtigkeit der elektronisch ermittelten Verordnungsvolumina auszugehen. Ergibt sich allerdings für die Prüfgremien der Verdacht von Fehlern bei der Berechnung des dem geprüften Arzt angelasteten Verordnungsvolumens oder macht der geprüfte Arzt substantiierte Zweifel geltend, so müssen die Prüfgremien dem nachgehen und erforderlichenfalls weitergehende Ermittlungen anstellen (vgl BSG vom 16.7.2008 - B 6 KA 57/07 R = BSGE 101, 130 = SozR 4-2500 § 106 Nr 19).

5. Praxisbesonderheiten sind aus der Zusammensetzung der Patienten herrührende Umstände, die sich auf das Behandlungs- bzw Verordnungsverhalten des Arztes auswirken und in den Praxen der Vergleichsgruppe nicht in entsprechender Weise anzutreffen sind (vgl BSG vom 21.6.1995 - 6 RKa 35/94 = SozR 3-2500 § 106 Nr 27). Die betroffene Praxis muss sich nach der Zusammensetzung der Patienten hinsichtlich der schwerpunktmäßig zu behandelnden Gesundheitsstörungen vom typischen Zuschnitt einer Praxis der Vergleichsgruppe unterscheiden (vgl BSG vom 6.9.2000 - B 6 KA 24/99 R = SozR 3-2500 § 106 Nr 50), und diese Abweichung muss sich gerade auf die überdurchschnittlich erbrachten Leistungen auswirken.

6. Für die Darlegung von Praxisbesonderheiten reicht es nicht aus, wenn der geprüfte Arzt lediglich eine Patientenliste mit der Angabe von Diagnosen und Behandlungen vorlegt (vgl BSG vom 25.11.1998 - B 6 KA 58/98 B). Vielmehr muss er spezielle Strukturen aufzeigen; hierfür ist es notwendig, dass er seine Patientenschaft und deren Erkrankungen so systematisiert, dass sich signifikante Abweichungen vom Durchschnitt der Vergleichsgruppe erkennen lassen.

7. Allein die Unterbringung eines Patienten in einem Pflegeheim rechtfertigt nicht die Anerkennung als Praxisbesonderheit mit Abzug eines pauschalen Verordnungsvolumens. Maßgebend ist die Morbidität der behandelten Patienten.

8. Allein die Angabe zur Anzahl von in Pflegeheimen behandelten Patienten ist nicht geeignet, den Umfang der gegenüber der Vergleichsgruppe erhöhten Arzneimittelaufwendungen darzustellen.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 05.06.2013; Aktenzeichen B 6 KA 40/12 R)

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Sprungrevision wird zugelassen.

Der Streitwert wird endgültig auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

 

Tatbestand

Streitig ist eine Wirtschaftlichkeitsprüfung aufgrund von Richtgrößen für das Jahr 2006.

Die Klägerin ist eine Gemeinschaftspraxis mit zwei Fachärzten für Allgemeinmedizin, die mit Vertragsarztsitz in D. an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen.

Auf die ihr bekanntgegebene Einleitung zur Durchführung eines Prüfungsverfahrens hat die Klägerin vorgetragen, die Verordnungskosten in Höhe von 778.281,29 EUR seien nicht korrekt. Die Summe der Endbeträge betrage 770.288,10 EUR. Zudem seien 21 Verordnungen aus dem Jahr 2005 mit 3.272,40 EUR berücksichtigt worden. Die Verordnungskosten würden sich damit auf 767.115,70 EUR reduzieren. Für 20 Patienten mit Verordnungskosten ab 2.000 EUR würden Praxisbesonderheiten in Höhe von 70.802,00 EUR geltend gemacht. Mit Ausnahme von vier Patienten handele es sich um Bewohner zweier Pflegeheime. Die Klägerin betreue etwa 200 Patienten in Pflegeheimen.

Mit Bescheid vom 19.12.2008 setzte der Prüfungsausschuss einen Regress in Höhe von 2.789,37 EUR fest. Nach der Anlage der Richtgrößenvereinbarung für das Jahr 2006 habe die Richtgröße für Fachärzte für Allgemeinmedizin für Versicherte 36,20 EUR und für Rentner 121,52 EUR betragen. Das Richtgrößenvolumen der Klägerin errechne sich bei einer Fallzahl von 2.383 Mitgliedern/Familienversicherten und 3.423 Rentnern mit 5...

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