Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung -Einkommenseinsatz. Anrechnung des Kindergeldes. volljähriges behindertes Kind. Anwendbarkeit von § 44 SGB 10

 

Orientierungssatz

1. Das an die Eltern ausgezahlte Kindergeld eines in häuslicher Gemeinschaft lebenden volljährigen behinderten Kindes ist nicht auf die Leistungen nach §§ 41ff SGB 12 anzurechnen.

2. Bei Leistungen nach §§ 41ff SGB 12 handelt es sich um Sozialleistungen iS des § 44 Abs 1 S 1 SGB 10.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 16.10.2007; Aktenzeichen B 8/9b SO 8/06 R)

 

Tenor

Der Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide vom 02.09.2005 in der Fassung der Widerspruchsbescheide vom 01.02.2006 verurteilt, den Klägern unter entsprechender Rücknahme der Bewilligungsbescheide vom 28.12.2004, 22.03.2005 und 11.05. 2005 für die Zeit vom 01.01. bis 30.06.2005 weitere Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung in Höhe von jeweils 970,89 EUR, zusammen 1941,78 EUR zu zahlen. Die außergerichtlichen Kosten der Kläger trägt der Beklagte. Die Sprungrevision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Ansprüche der Kläger auf weitere Leistungen der Grundsicherung (GSi) bei Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.01. bis 30.06.2005 in Höhe jeweils 970,89 EUR, zusammen 1941,78 EUR.

Die 1985 geborenen Kläger (Zwillinge) sind das 4. und 5. von 8 Kindern der Eheleute L. Die Kläger sind schwerbehindert und dauerhaft erwerbsgemindert. Sie wohnen bei ihren Eltern. Die Kläger erhalten seit 01.02.2004 Leistungen der GSi bei Erwerbsminderung, bis 31.12.2004 nach dem Grundsicherungsgesetz (GSiG), seit dem 01.01.2005 nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Auf diese Leistungen rechnete der Beklagte bis 30.06.2005 das Kindergeld, das die Eltern für die Kläger erhielten, als Einkommen an, und zwar im Jahr 2005 pro Kläger für die Monate Januar, Februar und März in Höhe von jeweils 154,00 EUR, für die Monate April, Mai und Juni in Höhe von jeweils 169,00 EUR. Die entsprechenden Bescheide vom 28.12.2004, 22.03.2005 und 11.05.2005 wurden bestandskräftig.

Seit dem 01.07.2005 wird das Kindergeld auf die den Klägern gewährten GSi-Leistungen nicht mehr bedarfsmindernd angerechnet.

Am 04.07.2005 beantragten die Kläger die Rücknahme der GSi-Leistungskürzungen in Höhe des Kindergeldes und Nachzahlung ab 01.01.2005.

Der Beklagte lehnte die Anträge durch Bescheide vom 02.09.2005 ab. Er verwies auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 13.11.2003 (5 C 26/02), wonach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) auf das Leistungsrecht des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) nicht anwendbar sei.

Die hiergegen am 21.09.2005 eingelegten Widersprüche der Kläger wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheide vom 01.02.2006 zurück mit der Begründung, einschlägig sei § 48 Abs. 2 SGB X, der jedoch lediglich eine Änderung mit Wirkung für die Zukunft vorsehe; soweit nach dieser Vorschrift § 44 SGB X unberührt bleibe, finde diese Norm nach der Rechtsprechung des BVerwG keine Anwendung.

Dagegen haben die Kläger am 24.02.2006 Klage erhoben. Sie sind der Auffassung, die Voraussetzungen für eine Rücknahme der bestandskräftigen GSi-Leistungsbescheide nach § 44 SGB X seien erfüllt; es sei unstreitig, dass der Beklagte das Recht unrichtig angewandt und die Kläger Sozialleistungen zu Unrecht nicht erhalten hätten, soweit der Beklagte das Kindergeld bedarfsmindernd angerechnet habe. Aus dem Gesetz ergebe sich nicht, dass § 44 SGB X auf die Leistungen nach dem SGB XII nicht anwendbar sei. Eine analoge Anwendung der BVerwG-Rechtsprechung zum BSHG auf das SGB XII und die GSi-Leistungen komme nicht in Betracht.

Die Kläger beantragen,

den Beklagten unter Aufhebung der Bescheide vom 02.09.2005 in der Fassung der Widerspruchsbescheide vom 01.02.2006 zu verurteilen, ihnen unter entsprechender Rücknahme der Bewilligungsbescheide vom 28.12.2004, 22.03.2005 und 11.05.2005 für die Zeit vom 01.01. bis 30.06.2005 weitere Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung in Höhe von jeweils 970,89 EUR, zusammen 1941,78 EUR nachzuzahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klagen abzuweisen.

Er ist der Auffassung, bei der GSi-Leistung handele es sich nicht um eine rentengleiche Dauerleistung, sondern - wie bei der Hilfe zum Lebensunterhalt - um eine fürsorgeähnliche, steuerfinanzierte, bedürftigkeitsorientierte Leistung. Insofern sei auch hier das BVerwG-Urteil vom 13.11.2003 anwendbar.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Kläger betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Klagen sind zulässig und begründet.

Die Kläger werden durch die angefochtenen Bescheide des Beklagten beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Sie haben Anspruch au...

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