Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Erstattung von Kosten im Vorverfahren. Rechtsanwaltsvergütung. Begriff "derselben Angelegenheit" in § 15 Abs 2 S 1 RVG. Streitigkeit über SGB 2-Leistungen. Bedarfsgemeinschaft. Umfang der anwaltlichen Tätigkeit. Berücksichtigung des Umfangs der Tätigkeit von Kanzleimitarbeitern. Serviceleistungen eines Rechtsanwaltes für seinen Mandanten. Berücksichtigung arbeitserleichternder Umstände. Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit. keine Differenzierung nach Rechtsgebieten. "Chemnitzer Tabelle". Unbilligkeit einer Gebührenbestimmung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zum Begriff "derselben Angelegenheit" in § 15 Abs 2 S 1 RVG.

2. Es erscheint diskussionswürdig, ob bei Streitigkeiten über SGB 2-Leistungen wegen des gesetzgeberischen Konzeptes der Individualansprüche überhaupt dieselbe Angelegenheit iS von Nr 1008 VV RVG gegeben ist (hier verneint für Widerspruchsverfahren von mehreren Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft gegen Aufhebungs- und Erstattungsbescheide).

3. Bei der Frage nach dem Umfang der anwaltlichen Tätigkeit ist auch der Umfang der Tätigkeit von Kanzleimitarbeitern zu berücksichtigen.

4. Serviceleistungen eines Rechtsanwaltes für seinen Mandanten, die über das von einem Anwalt nach dem Berufs-, Standes- oder Gebührenrecht erwartete oder geforderte Maß hinausgehen (hier: Sortieren von Unterlagen), können nicht bei der Gebührenfestsetzung berücksichtigt werden. Wie einer Behörde bei einer Antragstellung obliegt es aber auch einem Rechtsanwalt, das vorgelegte Material auf entscheidungsrelevante Unterlagen hin durchzusehen.

5. a) Bei der Beurteilung des Umfanges der anwaltlichen Tätigkeit sind arbeitserleichternde Umstände (zum Teil bezeichnet als Synergieeffekt oder Rationalisierungseffekt) zu berücksichtigen. Entscheidend ist, dass ein Rechtsanwalt die Tätigkeiten in einer Angelegenheit in einem gleich oder ähnlich gelagerten Fall nutzen kann. Dies kann in vielfältiger Weise geschehen, zum Beispiel durch die Übernahme von Textpassagen aus früheren Schriftstücken oder die Übernahme ganzer Schriftsätze, aber auch durch den Rückgriff auf früher erworbene Informationen und Erkenntnisse.

b) Die zu berücksichtigende Arbeitserleichterung rechtfertigt aber nicht schon als solche, in dem gleichgelagerten Verfahren unbesehen die Mindestgebühr heranzuziehen.

c) Wenn sich bei einer feststehenden Arbeitserleichterung des Rechtsanwaltes keine chronologische Abfolge der anwaltlichen Tätigkeiten feststellen lässt, kann auch nicht bestimmt werden, in welchem Verfahren der Rechtsanwalt die Hauptarbeit leistete und in welchen Fällen ihm diese zuerst geleistete Tätigkeit zugutekam. In einem solchen Fall kann der arbeitserleichternde Effekt von Aufträgen in gleich gelagerten Fällen nur dadurch berücksichtigt werden, dass der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit in allen Fällen im gleichen Maße als vermindert angesehen wird.

6. Für die Einordnung, ob die rechtliche Schwierigkeit durchschnittlich, über- oder unterdurchschnittlich ist, ist nicht nach einzelnen Rechtsgebieten zu differenzieren (Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung des 6. Senates des LSG Chemnitz im Rahmen der "Chemnitzer Tabelle"; vgl LSG Chemnitz vom 31.3.2010 - L 6 AS 99/10 B KO, juris-Rdnr 46ff).

7. Kein geeigneter Gradmesser für die Beurteilung der Schwierigkeit einer anwaltlichen Tätigkeit ist der Umfang der verfassten Schriftsätze in einem Widerspruchs- oder Klageverfahren.

8. Eine Gebührenbestimmung ist nicht unbillig iS von § 14 Abs 1 S 4 RVG, wenn ein Rechtsanwalt mehrere Bescheide mit mehreren Widersprüchen statt gehäuft mit einem Widerspruch angreift.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 02.04.2014; Aktenzeichen B 4 AS 27/13 R)

 

Tenor

I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 28. Oktober 2011 wird zurückgewiesen.

II. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers sind im Klageverfahren im Umfang von 1/3 und im Berufungsverfahren in vollem Umfang erstattungsfähig.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der vom Beklagten zu erstattenden Aufwendungen des Klägers für die Hinzuziehung seines Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren streitig.

Der Kläger, seine Lebensgefährtin (eine slowakische Staatsangehörige) und der minder-jährigen Sohn bildeten im streitbefangenen Zeitraum eine Bedarfsgemeinschaft im Sinne des Sozialgesetzbuches Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). die ARGE D… (im Folgenden: ARGE) bewilligte mit Bescheid vom 16. April 2008 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 7. Juli 2008 und vom 18. Juli 2008 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Zeit vom 1. Juni 2008 bis zum 30. November 2008. Für Mai und Juni 2008 beliefen sich die bewilligten Leistungen für den Kläger auf 237,38 EUR (= 111,06 EUR [Regelleistung] + 126,32 EUR [Leistungen für Unterkunft und Heizung]) und 256,73 EUR (=130,41 EUR + 126,32 EUR), für seine Lebensgefährtin auf 237,40 EUR (= 111,06 ...

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