Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Unfallversicherungsschutz. schwerstmehrfach Behinderter. Aufenthalt im angegliederten Förder- und Betreuungsbereich einer Werkstatt für Behinderte gem § 136 Abs 3 SGB 9. Erwartung eines Mindestmaßes wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung. Beobachtungs- und Entwicklungsbericht. Leitlinie für verwaltungspraktische Sachbearbeitung "Bildungsmaßnahmen und damit zusammenhängende Fragen des Versicherungsschutzes und der Zuständigkeiten". Wie-Beschäftigung. Verfolgung eines fremdwirtschaftlichen Zweckes

 

Orientierungssatz

Der Aufenthalt eines schwerstmehrfachbehinderten Menschen in dem einer Werkstatt für Behinderte angegliederten Förder- und Betreuungsbereich (§ 136 Abs 3 SGB 9 ) steht weder gem § 2 Abs 1 Nr 4 SGB 7 noch gem § 2 Abs 2 S 1 iVm Abs 1 Nr 1 SGB 7 unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 18.01.2011; Aktenzeichen B 2 U 9/10 R)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 26.06.2008 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind für beide Instanzen nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten, ob es sich bei dem Unfallereignis vom 20.01.2006 um einen Arbeitsunfall handelt.

Der 1972 geborene schwerstmehrfachbehinderte Kläger wird seit 1992 im Förder- und Betreuungsbereich des Diakoniewerkes O e. V. - Werkstatt B - als anerkannte Werkstatt für Behinderte betreut. Ziel war es, durch täglich verschiedene Förderangebote, z. B. Befüllen von Steckbrettern, Bemalen von Blättern, Gymnastik, seine Selbständigkeit und Leistungsfähigkeit zu fördern und zu erhöhen und ihm eine sinnvolle Tagesstruktur zu geben. Als der Kläger am 20.01.2006 morgens das Werkstattgebäude betrat, stieß er gegen die sich automatisch seitlich öffnende Eingangstür, wobei ihm die Krone des vorderen linken Schneidezahns abbrach.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 11.12.2006 die Anerkennung des Unfallereignisses vom 20.01.2006 als Arbeitsunfall ab. Der Kläger habe zum Unfallzeitpunkt nicht zum Kreis der in der gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Personen gehört. Er habe nur Arbeiten im Sinne einer Beschäftigungstherapie ausgeführt, die jedoch wirtschaftlich nicht verwertbar seien. Versicherungsschutz bestünde aber nur dann, wenn der Behinderte in der Lage sei, regelmäßig im Rahmen der planmäßigen Organisation der betreuenden Einrichtung produktive bzw. wirtschaftlich verwertbare Tätigkeiten zu verrichten. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 06.06.2007 zurück. Bei dem vom Kläger wahrgenommenen Förderangeboten handle es sich nicht um produktive bzw. wirtschaftlich verwertbare Tätigkeiten.

Sein Begehren hat der Kläger mit der am 02.07.2007 zum Sozialgericht Dresden (SG) erhobenen Klage weiter verfolgt. Ziel der Förderung im Betreuungsbereich der Werkstatt sei es gewesen, die Voraussetzungen für seine Aufnahme in die Werkstatt für behinderte Menschen zu schaffen.

Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 26.06.2008 den Bescheid der Beklagten vom 11.12.2006 und den Widerspruchsbescheid vom 06.06.2008 aufgehoben und festgestellt, dass das Unfallereignis vom 20.01.2006 einen Arbeitsunfall darstellt. Versicherte Tätigkeit sei nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Daher könne dahinstehen, ob der Kläger am 20.01.2006 bereits die Eingangstür durchschritten hatte, als es zu dem Anstoß gekommen sei. Vorliegend seien bezüglich seiner Tätigkeit die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Nr. 4 SGB VII gegeben. Zwar sei der Kläger vorliegend nicht in einer Werkstatt für Behinderte, sondern unter dem so genannten "verlängerten Dach" einer solchen Werkstatt tätig gewesen. Dies schließe aber den Versicherungsschutz ebenso wenig aus wie die Tatsache, dass sich die Unfallversicherungsträger im Sinne einer Konvention (HVBG 4/2003) dahingehend verständigt haben, dass im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich stets Unfallversicherungsschutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 SGB VII bestehe. Auch die Absolvierung von Fördermaßnahmen zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit mit der Perspektive, in die eigentliche Werkstatt für Behinderte aufgenommen zu werden, sei eine Tätigkeit im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 4 SGB VII. Auch wenn eine Einrichtung im Sinne des § 136 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Neunter Teil (SGB IX) rein rechtlich gesehen nicht zur Werkstatt für Behinderte im Sinne des § 136 Abs. 1 SGB IX gehöre, bestehe jedoch eine organisatorische Angliederung, die es rechtfertige, bezüglich des Unfallversicherungsschutzes eine Gleichbehandlung zwischen den Teilnehmern an Fördergruppen in einer Werkstatt für behinderte Menschen und an Fördergruppen in angegliederten Einrichtungen vorzunehmen (so auch Wolber, Verlängertes Dach der Werkstatt für Behinderte, Sozialversicherung 1993, S. 1...

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