Das Wichtigste in Kürze:

1. Nach der Generalklausel des § 140 Abs. 2 ist ein Pflichtverteidiger u.a. dann beizuordnen, wenn das wegen der Schwere der Tat oder der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge geboten erscheint.
2. Primär ausschlaggebend ist die Höhe der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe. Liegt diese bei mindestens einem Jahr, ist ein Verteidiger zu bestellen.
3. Neben der reinen Straferwartung ist auch das dem Beschuldigten drohende Gesamtstrafübel in den Blick zu nehmen. Dieses kann die Mitwirkung eines Verteidigers auch dann notwendig machen, wenn die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe weniger als ein Jahr beträgt.
 

Rdn 3466

 

Literaturhinweise:

Böß, Das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, NStZ 2020, 185

Friedt, Pflichtverteidigung erst bei einer Straferwartung von mindestens einem Jahr?, StraFo 1997, 236

Hillenbrand, Die notwendige Verteidigung gem. § 140 StPO im Strafverfahren vor dem Amtsgericht – Teil 1, StRR 2014, 4

ders., Das neue Recht der Pflichtverteidigung, StRR 2/2020, 4

Müller-Jacobsen, Das neue Recht der notwendigen Verteidigung, NJW 2020, 575

­Ostendorf, Die Pflichtverteidigung in Jugendstrafverfahren, StV 1986, 308

Rieß, Das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege – ein Überblick, AnwBl 1993, 51

Strate, Pflichtverteidigung bei Ausländern, StV 1981, 46

s.a. die Hinw. bei → Pflichtverteidiger, Allgemeines, Teil P Rdn 3305.

 

Rdn 3467

1. Nach der Generalklausel des § 140 Abs. 2 ist ein Pflichtverteidiger u.a. dann beizuordnen, wenn das wegen der "Schwere der Tat" oder "der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge" geboten erscheint. Diese Generalklausel hat die Funktion eines Auffangtatbestandes und greift insbesondere in Strafsachen wegen Vergehen, die voraussichtlich vor dem Strafrichter am AG verhandelt werden (ist dagegen zu erwarten, dass die HV mindestens vor dem Schöffengericht stattfindet, gilt § 140 Abs. 1 Nr. 1, → Pflichtverteidiger, Beiordnung nach § 140 Abs. 1, Teil P Rdn 3392). Die zu erwartende Rechtsfolge ist erst seit dem Inkrafttreten des "Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung" v. 10.12.2019 (BGBl I, S. 2128) am 13.12.2019 im Gesetz ausdrücklich erwähnt, zuvor war lediglich die "Schwere der Tat" aufgeführt. Zu praktischen Veränderungen hat die Neuregelung indes nicht geführt, nachdem die Rspr. bereits zuvor den Rechtsbegriff der "Schwere der Tat" maßgeblich mit Blick auf die zu erwartende Rechtsfolgenentscheidung interpretiert hat (Meyer-Goßner/Schmitt, § 140 Rn 23 m.w.N). Die Straferwartung war mithin schon vor der Reform das für die Verteidigerbestellung maßgebliche Kriterium (Hillenbrand, StRR 2/2020, 4; zur gem. § 60 OWiG zulässigen Beiordnung im Bußgeldverfahren → Bußgeldverfahren, Besonderheiten, Pflichtverteidigung, Teil B Rdn 1590; Burhoff/Burhoff, OWi, Rn 2977 ff.). Überdies wird, wenn die zu erwartende Rechtsfolge schwer i.S.d. § 140 Abs. 2 ist, regelmäßig auch die zugrunde liegende Tat selbst schwer sein. Die beiden Beiordnungsgründe werden deshalb in der Folge zusammen dargestellt.

 

Rdn 3468

2.a) Primär ausschlaggebend für die Frage, ob die Schwere der Tat/der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig macht, ist die Höhe der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe. Liegt diese bei mindestens einem Jahr, ist ein Verteidiger zu bestellen.

 

Rdn 3469

Sonderregelungen gibt es im → Beschleunigten Verfahren, Teil B Rdn 1136, sowie im → Strafbefehlsverfahren, Teil S Rdn 4204. Hier genügt es, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten (§ 418 Abs. 4) bzw. überhaupt eine Freiheitsstrafe in Betracht kommt (§ 407 Abs. 2 S. 2). Im JGG-Verfahren ist eine Beiordnung bereits dann geboten, wenn eine Jugendstrafe zu erwarten ist (§ 68 Nr. 5 JGG), deren Höhe spielt keine Rolle. Zu erwarten ist eine Jugendstrafe, wenn deutlich mehr als ihre bloße Möglichkeit, d.h. mindestens eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Verhängung besteht (LG Stendal, Beschl. v. 7.5.2021 – 503 Qs 2/21).

 

☆ Ob die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden könnte oder nicht, ist nach richtiger Auffassung nicht von Belang (KK- Willnow , § 140 Rn 21; MüKo- Thomas/Kämpfer , § 140 Rn 29.zur Bewährung ausgesetzt werden könnte oder nicht, ist nach richtiger Auffassung nicht von Belang (KK-Willnow, § 140 Rn 21; MüKo-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn 29.

Die "Jahresgrenze" entspricht gefestigter Rspr. (KG StV 2018, 144 [Ls.]; VRS 111, 193 ["um ein Jahr"]; NStZ-RR 2013, 166; Beschl. v. 13.12.2018 – 3 Ws 290/18; OLG Dresden NJW 2005, 3655 [Ls.]; OLG Hamm StraFo 2001, 137; OLG München NJW 2006, 789; OLG Naumburg StraFo 2011, 517 [Rechtsmittelverzicht in der HV]; StV 2013, 433; OLG Saarbrücken StRR 2014, 145; OLG Stuttgart NStZ-RR 2012, 214; LG Braunschweig, Beschl. v. 20.8.2020 – 9 Qs 159/20; LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 27.8.2020 – 3 Qs 296 Js 12711/19 (121/20); LG Gera StraFo 1999, 308; [so wohl auch] LG Freiburg, Beschl. v. 28.8.2017 – 2 Qs 15/17; LG Koblenz StV 2009, 237 [Ls.]; LG Zweibrück...

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