Leitsatz (amtlich)

1. Bei Geschäften, die wegen ihres Umfangs, der mit ihnen verbundenen Risiken oder ihrer strategischen Funktion für die Gesellschaft für die Gesellschaft besonders bedeutsam sind, muss jedes Aufsichtsratsmitglied den relevanten Sachverhalt erfassen und sich ein eigenes Urteil bilden; dies umfasst regelmäßig auch eine eigene Risikoanalyse.

2. Mitglieder des Aufsichtsrats, die durch öffentliche "pointierte Meinungsäußerungen" im Rahmen eines unternehmensinternen Konflikts die Kreditwürdigkeit der Gesellschaft gefährden, verletzen grundsätzlich ihre Treuepflicht dieser gegenüber.

3. Lässt sich ein Sachverhalt zwar unterschiedlich interpretieren, ergibt sich aber in jedem Fall eine schwerwiegende Pflichtverletzung des Entlasteten, fehlt es nicht an der für die Anfechtung eines Entlastungsbeschlusses nötigen Eindeutigkeit einer Pflichtverletzung des Entlasteten.

4. Zwar setzt die Anfechtbarkeit eines Entlastungsbeschlusses voraus, dass die eindeutige und schwerwiegende Pflichtverletzung des Entlasteten dem objektiven Durchschnittsaktionär in der über die Entlastung beschließenden Hauptversammlung erkennbar war. Sind die tatsächlichen Umstände, aus denen die Pflichtverletzung abzuleiten ist, unstreitig, genügt dazu aber, dass sie den Hauptversammlungsteilnehmern durch den Redebeitrag eines Aktionärs vor Augen geführt werden.

5. Folgt eine die Entlastung hindernde Pflichtverletzung aus bestimmten Äußerungen des Entlasteten, schiebt der Anfechtungskläger jedenfalls dann nicht in unzulässiger Weise Anfechtungsgründe nach, wenn er zwar nach Ablauf der Anfechtungsfrist vorträgt, dass dem objektiven Durchschnittsaktionär diese Äußerungen in der Hauptversammlung vor Augen geführt wurden, aber bereits vor Ablauf der Anfechtungsfrist die Äußerungen und die Interpretationsmöglichkeiten, an die er den Vorwurf der Pflichtverletzung knüpft, vorgetragen hatte.

6. Werden alle Mitglieder des Aufsichtsrats durch einen Beschluss entlastet, obwohl Einzelentlastung beantragt worden war, ist der angefochtene Entlastungsbeschluss regelmäßig insgesamt für nichtig zu erklären, wenn in der Person eines Aufsichtsratsmitglieds eine die Entlastung hindernde eindeutige und schwerwiegende Pflichtverletzung festzustellen ist.

 

Normenkette

AktG §§ 111, 116, 120, 246, 248

 

Verfahrensgang

LG Stuttgart (Urteil vom 17.05.2011; Aktenzeichen 31 O 30/10 KfH)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des LG Stuttgart vom 17.5.2011 - 31 O 30/10 KfH, abgeändert:

Der unter Tagesordnungspunkt 4 der ordentlichen Hauptversammlung der Beklagten am 29.1.2010 gefasste Beschluss über die Entlastung der Mitglieder des Aufsichtsrats für das Geschäftsjahr 2008/2009 wird für nichtig erklärt.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen.

3. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 120 % des jeweils beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Streitwert des Berufungsverfahrens: 100.000 EUR

 

Gründe

A. Die Klägerin, ein eingetragener Verein, wendet sich als (Vorzugs-)Aktionärin der Beklagten gegen den in der ordentlichen Hauptversammlung der Beklagten am 29.1.2010 unter Tagesordnungspunkt (TOP) 4 gefassten Beschluss über die Entlastung der Mitglieder des Aufsichtsrats für das Geschäftsjahr 2008/2009.

I.1. Zu den gesellschaftsrechtlichen Verhältnissen der Beklagten ist anzumerken:

a) Die Beklagte ist eine börsennotierte Gesellschaft in der Rechtsform der Europäischen Gesellschaft (SE). Sie ist im Jahr 2007 durch Umwandlung der P AG entstanden, wobei der operative Geschäftsbetrieb auf eine andere Aktiengesellschaft ausgegliedert wurde, die in P AG umfirmierte und bis zum Ende des Geschäftsjahrs 2008/2009 eine einhundertprozentige Tochtergesellschaft der Beklagten war (im Folgenden P AG).

b) Nach der im Geschäftsjahr 2008/2009 geltenden Fassung der Satzung reichte ihr Geschäftsjahr jeweils vom 01.08. eines Jahres bis zum 31.07. eines Folgejahres. § 2 der Satzung bestimmt den Unternehmensgegenstand der Beklagten wie folgt:

"§ 2 Gegenstand des Unternehmens

(1) Gegenstand des Unternehmens ist die Leitung von Unternehmen und die Verwaltung von Beteiligungen an Unternehmen, die insbesondere in folgenden Geschäftsfeldern tätig sind:

  • Entwicklung, Konstruktion, Herstellung und Vertrieb von Fahrzeugen, Motoren aller Art und anderen technischen Erzeugnissen sowie von Teilen und Baugruppen für die genannten Produkte;
  • Beratung auf dem Gebiet der Entwicklung und Fertigung, insbesondere im Bereich des Fahrzeug- und Motorenbaus;
  • Beratung und Entwicklung der Datenverarbeitung sowie die Erstellung und der Vertrieb von Erzeugnissen der Datenverarbeitung;
  • Vermarktung von Waren unter Nutzung von Markenrechten;
  • Erbringen von Finanzdienstleistungen.

Die Tätigkeit des Unternehmens umfasst insbesondere den Erwerb, das Halten und Verwalten sowie die Veräußerung von Beteiligungen an solchen Unternehmen, d...

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