Leitsatz (amtlich)

1. Wird ein Kunde im Wege der sog. "Kaltakquise" (Ausspannen von Kunden) nach wiederholten Besuchen gewonnen, kann dies die üblichen Indizien für Arglist bei unvollständigen Gesundheitsangaben stark entwerten.

2. Die Platzierung der Hinweise auf die Rechtsfolgen falscher Gesundheitsangaben in einem Antragsformularsatz auf der letzten Seite, mehrere Seiten nach der Unterschrift, kann bei der Antragstellung leicht übersehen werden und ist aus diesem Grund nicht ausreichend, so dass der Versicherer u.a. sein Recht zum Rücktritt nicht ausüben kann (im Anschluss an BGH, VersR 2013, 297).

 

Normenkette

VVG § 19 Abs. 5, § 22; BGB § 123

 

Verfahrensgang

LG Hechingen (Urteil vom 30.04.2013; Aktenzeichen 1 O 344/12)

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des LG Hechingen vom 30.4.2013, AZ 1 O 344/12 abgeändert:

1. Es wird festgestellt, dass der bei der Beklagten unter der Versicherungsnr. bestehende Krankenversicherungsvertrag des Klägers durch Rücktritt oder Anfechtung der Beklagten nicht erloschen ist und zu unveränderten Bedingungen fortbesteht.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 4.851,54 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 1.11.2012 zu bezahlen.

3. Die Beklagte wird verurteilt, vorgerichtliche Anwaltsgebühren i.H.v. 1.307,81 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 22.12.2012 zu bezahlen.

4. Die Widerklage der Beklagten wird abgewiesen.

II. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen.

III. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung des Klägers durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des vollstreckbaren Geldbetrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor Vollstreckungsbeginn Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils beizutreibenden Geldbetrags leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Streitwert des Berufungsverfahrens:

Berufungsantrag Ziff. 1: 443,79 EUR * 12 * 3,5 (§§ 3, 9 GKG) = 18.639,18 EUR

Berufungsantrag Ziff. 2: 4.851,54 EUR

Berufungsantrag Ziff. 3: kein Wert, da Kosten 0 EUR

Berufungsantrag Ziff. 4: 6.972,47 EUR

Summe: 30.463,19 EUR

 

Gründe

I. Gegenstand der Klage ist die Feststellung des Fortbestandes eines Kranken- und Pflegeversicherungsvertrags trotz Anfechtungs- und Rücktrittserklärung der Beklagten sowie Leistungsansprüche auf Erstattung von Krankheitskostenaufwendungen; widerklagend verlangt die Beklagte Rückzahlung bereits erstatteter Krankheitskosten.

Der am geborene, als orthopädischer Schuhmachermeister selbständig erwerbstätige Kläger beantragte am 12.2.2009 bei der Beklagten den Abschluss einer privaten Kranken- und Pflegeversicherung mit Wirkung zum 1.1.2010. Im Formularsatz des Versicherungsantrags (aus Bl. 6/1 - 6/3 d.A. ersichtlich), war auf der 4. Seite die aus Anlage BB1 (Bl. 104 d.A.) ersichtliche "Schlusserklärung des Antragstellers und der zu versichernden Person(en)" abgedruckt und als weiterer Anhang die "Wichtigen Hinweise zur Anzeigepflicht" angefügt (Anlage BB 2, Bl. 105 d.A.). Die Beklagte nahm den Antrag gegen Risikozuschläge wegen Fehlsichtigkeit und Übergewicht an. Grund für den Wechsel vom alten Kranken-Versicherer des Klägers (-Versicherung) zur Beklagten waren Kostenersparnisse von 400 - 500 EUR/Monat.

Anlässlich verschiedentlicher Krankenkostenabrechnungen ermittelte die Beklagte durch Rückfragen bei den behandelnden Ärzten, dass der Kläger sich im August 2008 mehrfach wegen einer Gonarthrose (Kniegelenksarthrose) und von Februar 2007 bis April 2008 mehrfach wegen arterieller Hypertonie hatte behandeln lassen. Weil der Kläger diese Behandlungen trotz ausdrücklicher Fragen zu seinem Gesundheitszustand im Versicherungsantrag nicht angegeben, sondern der Versicherungsvermittler - wie die Beklagte behauptet - auf die entsprechenden Angaben des Klägers hin lediglich vermerkt hatte "Kontrolluntersuchungen - ohne Befund" (vgl. Anlage Bl. 6 - 6/3 d.A.), erklärte die Beklagte mit Schreiben vom 19.7.2012 (Anl. Bl. 6/4 d.A.) die Anfechtung ihrer Annahmeerklärung und den Rücktritt vom Vertrag.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seinem Feststellungsbegehren, dass der Versicherungsvertrag ungeachtet der Gestaltungserklärungen der Beklagten fortbestehe. Er machte erstinstanzlich - erstmals in der mündlichen Verhandlung vom 29.4.2013 - geltend, seine Knie- und Herz-/Kreislaufbeschwerden dem Versicherungsvermittler offenbart zu haben, der dies jedoch nicht für anzeigepflichtig gehalten habe.

Darüber hinaus verlangt der Kläger die Erstattung weiterer angeblich angefallener Krankheitskosten i.H.v. 4.851,54 EUR, die die Beklagte im Hinblick auf ihre Anfechtungs- und Rücktrittserklärung abgelehnt hatte.

Widerklagend begehrt die Beklagte Rückzahlung von Krankheitskostenerstattungen, die sie unstreitig i.H.v. 6.972,47 EUR an den Kläger bereits gezahlt hatte.

Sie ist der Auffassung, dass der Kläger die an ihn gerichteten Gesundheitsfragen vorsätzlich und arglistig täuschend unzutreffend beantwortet habe, indem er seine Vorerkrankungen ...

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