Entscheidungsstichwort (Thema)

Verpflichtung des Jugendamtes zur sorgfältigen Auswahl und Kontrolle von Pflegeeltern. Pflichtverletzung der Pflegeeltern bei der Betreuung eines Kindes stellt keine Amtspflichtverletzung dar

 

Leitsatz (amtlich)

1. Stimmt der Sorgeberechtigte im Rahmen einer vorläufigen Maßnahme des Jugendamts zum Schutz von Kindern oder Jugendlichen einer Unterbringung des Kindes oder Jugendlichen bei Pflegeeltern zu, sind die Mitarbeiter des Jugendamts lediglich verpflichtet, die Pflegeeltern sorgfältig auszuwählen und durch Kontrollen zu überprüfen.

2. Eine etwaige Pflichtverletzung der Pflegeeltern bei der Betreuung des Kindes oder Jugendlichen ist in diesen Fällen dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht als Amtspflichtverletzung zuzurechnen.

 

Normenkette

SGB VIII §§ 42-43; BGB § 839; GG Art. 34

 

Verfahrensgang

LG Tübingen (Urteil vom 18.02.2005; Aktenzeichen 7 O 560/03)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 23.02.2006; Aktenzeichen III ZR 164/05)

 

Tenor

1. Die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des LG Tübingen vom 18.2.2005 (7 O 560/03) wird zurückgewiesen.

2. Die Klägerin Ziff. 1 trägt 4/5, die Klägerin Ziff. 2 trägt 1/5 der Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerinnen können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

4. Die Revision wird zugelassen.

Streitwert. 60.000 EUR.

 

Gründe

I. Die Klägerinnen machen gegen den beklagten Landkreis Schadensersatzansprüche aus übergegangenem Recht aufgrund von Sozialleistungen an einen ihrer Versicherten geltend.

Versicherter ist das am 30.11.2000 geborene Kind A. Es wurde im Säuglingsalter in einer Wohngemeinschaft in R. vorgefunden. Bei einem unangemeldeten Hausbesuch des Jugendamts am 11.1.2001 befand sich das Kind in Gesellschaft zweier Männer und zweier Kampfhunde, wobei es in einer schmutzigen Decke eingewickelt auf dem Sofa lag. Die drogenabhängige und wohnsitzlose Mutter war nicht anwesend. Auf Veranlassung des Jugendamts wurde das Kind bei einer Pflegefamilie untergebracht. Die Familie war seit 1999 in einer Liste für Pflegeeltern aufgenommen und bereits als Pflegefamilie eingesetzt gewesen. Sie war auf die Versorgung eines Säuglings eingestellt, die Pflegemutter hat selbst drei Kinder und ist von Beruf Kinderkrankenschwester. Am 12.1.2001 unterschrieb die leibliche Mutter des Kindes ein Formular des Jugendamts, das nach dem Vordruck die Gewährung von Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz betrifft. Das Kind wurde von einer Mitarbeiterin des Jugendamts bei den Pflegeeltern besucht, ein weiterer Besuchstermin mit der Mutter wurde von dieser verschoben. Am 22.1.2001 wurde das Kind mit schwersten Kopfverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Es ist seither zu 100 % schwerbehindert. Nach der Darstellung der Pflegemutter war das Kind auf einer Wickelauflage auf der Waschmaschine gelegen. Der Unfall soll sich so zugetragen haben, dass die Tochter der Pflegemutter auf einem Kinderhocker stehend zugesehen und das Baby gestreichelt habe. Dabei sei die Tochter ins Straucheln gekommen. Während die Pflegemutter versucht habe, ihre Tochter vor einem Sturz zu bewahren, habe diese reflexartig an der Wickelauflage gezogen. Hierdurch sei das Pflegekind auf der anderen Seite heruntergefallen und mit dem Kopf an ein Waschbecken angeschlagen. Diese Darstellung wird inzwischen u.a. von der Mutter des Kindes in Zweifel gezogen. Die Klägerinnen sind der Auffassung, dass der Landkreis wegen Verletzung seiner Aufsichtspflicht und wegen Vertragsverletzung hafte. Auch sei das Verschulden der Pflegemutter dem Landkreis zuzurechnen.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Ein Amtshaftungsanspruch sei nicht gegeben, da eine Verletzung von Amtspflichten durch die Mitarbeiter des Jugendamtes nicht vorliege. Eine unmittelbare Betreuungspflicht durch das Jugendamt bestehe nicht. Dabei könne dahinstehen, ob lediglich eine vorläufige Maßnahme (§§ 42, 43 SGB VIII) oder bereits eine Jugendhilfemaßnahme (§ 33 SGB VIII) vorliege. Aufsichts- und Kontrollpflichten seien nicht verletzt. Eine Haftung des Landkreises für die Pflegeeltern als Verrichtungsgehilfen scheide aus. Auch vertragliche Ansprüche und Schadensersatzansprüche wegen Pflichtverletzung bei einer Geschäftsbesorgung ohne Auftrag seien nicht gegeben.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf das erstinstanzliche Urteil Bezug genommen.

Die Klägerinnen machen mit der Berufung geltend, die Mutter des Kindes habe das Formular des Jugendamts nur unterschrieben, weil im Falle der Weigerung mit der Anrufung des FamG gedroht worden sei. Das Formular sei nachträglich verändert worden, tatsächlich habe nur eine Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII vorgelegen. Der Beklagte habe aufgrund der Inobhutnahme des Kindes sorgerechtliche Befugnisse wahrzunehmen; haftungsrechtlich sei er wie ein Vormund zu behandeln. Die Pflegeeltern seien als Te...

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