Leitsatz (amtlich)

Die mündliche Anhörung des Verurteilten über die Aussetzung des Strafrestes kann nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts in Form einer Videokonferenz durchgeführt werden, wenn der Verurteilte sich hiermit ausdrücklich vor dem Anhörungstermin einverstanden erklärt hat und er darauf hingewiesen worden ist, dass er Anspruch auf eine mündliche Anhörung hat.

 

Normenkette

StPO § 454 Abs. 1 S. 3

 

Verfahrensgang

LG Heilbronn (Entscheidung vom 01.03.2012; Aktenzeichen 10 StVK 26/12 SHA)

 

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts - Strafvollstreckungskammer - Heilbronn vom 1. März 2012

a u f g e h o b e n .

Die Sache wird zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an die Strafvollstreckungskammer

z u r ü c k v e r w i e s e n .

 

Gründe

1. Mit der angefochtenen Entscheidung hat es die Strafvollstreckungskammer abgelehnt, die Vollstreckung des letzten Drittels der Freiheitsstrafe von sieben Jahren aus dem Urteil des Landgerichts Heilbronn vom 29. Januar 2008 zur Bewährung auszusetzen. Gegen diese Entscheidung hat der Verurteilte sofortige Beschwerde eingelegt.

2. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

Die Strafvollstreckungskammer hat den Beschwerdeführer nicht persönlich, sondern im Wege der Videoübertragung angehört. Im Rahmen dieser Anhörung erklärte er, er sei mit einer Anhörung auf diesem Wege einverstanden. In der an den Verurteilten gerichteten Nachricht über den Anhörungstermin wurde zwar darauf hingewiesen, dass es sich um eine audiovisuelle Anhörung (Videoanhörung) handele. Der Verurteilte wurde aber im Rahmen dieser Ladung und auch nicht in anderer Weise vor dem Anhörungstermin gefragt, ob er mit dieser Form der Anhörung einverstanden sei und er deshalb auf eine mündliche Anhörung verzichte.

Dieses Verfahren ist zu beanstanden.

a) Durch die mündliche Anhörung gem. § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO soll sich das Gericht einen unmittelbaren persönlichen Eindruck von dem Verurteilten verschaffen, um den Sachverhalt umfassend aufzuklären. Die Form der Anhörung bestimmt es nach seinem pflichtgemäßen Ermessen. Dabei ist eine Videokonferenz grundsätzlich möglich, allerdings nur dann, wenn dem der Zweck der mündlichen Anhörung nicht entgegensteht, in der alle für die Aussetzungsfrage maßgeblichen Umstände zu erörtern sind. Bei der Ermessensentscheidung sind vor allem die Persönlichkeit des Verurteilten, die Vollzugsdauer, die Art der begangenen Straftat, sein Verhalten im Vollzug, die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB) und die Entfernung der Justizvollzuganstalt vom Sitz des Gerichts zu berücksichtigen. Auch ist zu bedenken, dass der Verurteilte befangen ist, dass Hemmungen auftreten und er das Gefühl hat, "gegen eine Wand zu reden", da ein real existierendes menschliches Gegenüber fehlt. Es kann eine im Vergleich zu einer mündlichen Anhörung hinausgehende Nervosität auftreten. Darüber hinaus gehört zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts durch die Strafvollstreckungskammer, dass sie sich von der Person des Verurteilten ein umfassendes Bild macht, wozu eine Videokonferenz nur eingeschränkt in der Lage ist (KK-Appl, StPO, 6. Aufl., § 454 Rd. 17a; zu allem grundlegend Esser NStZ 2003, 464;OLG Frankfurt NStZ-RR 2006, 357; OLG Karlsruhe Justiz 2005, 399; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl. § 454 Rn. 34; LR/Graalmann-Scheerer, StPO, 26. Aufl., § 454 Rn. 36) .

Hieraus ergibt sich, dass der Ersatz der mündlichen Anhörung durch eine Videokonferenz vielfach in den Fällen nicht möglich sein wird, in denen es um die Aussetzung hoher Strafreste geht. Auch wird in aller Regel in den Verfahren, die unter § 454 Abs. 2 StPO fallen, eine Videokonferenz ausscheiden. Gleiches gilt, wenn besondere Schwierigkeiten erkennbar sind oder der Sachverhalt nicht hinreichend, auch nicht durch die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt, aufgeklärt ist.

b) In den Fällen, in denen hiernach eine audiovisuelle Vernehmung in Betracht kommt, steht es dem Verurteilten frei zu erklären, dass er auf einer persönlichen Anhörung besteht (vgl. OLG Frankfurt aaO.; OLG Karlsruhe aaO.).

Er ist zu befragen, ob er hiermit einverstanden ist. Angesichts der Bedeutung der mündlichen Anhörung genügt es nicht, wenn er sein Einverständnis mit diesem Verfahren erst während der Videokonferenz gibt, da er in dieser Situation vielfach nicht in der Lage sein wird, spontan zu bedenken, ob aus seiner Sicht bei dieser Form der Anhörung seine Rechte in ausreichender Weise gewahrt werden. Auch ist zu besorgen, dass sich manch Verurteilter scheuen mag, die faktisch bereits stattfindende Videovernehmung noch zu beenden, da er befürchten könnte, anderenfalls drohten ihm Nachteile bzw. er bringe das Gericht gegen sich auf. Vielmehr ist es notwendig, ihn vor dem Anhörungstermin, z.B. in der Nachricht vom Termin zur Anhörung, ausdrücklich zu befragen, ob er mit einer audiovisuellen Vernehmung einverstanden ist. Dabei ist er darauf hinzuweisen, dass er eine mündliche Anhörung verlangen kann. Ist er...

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