Leitsatz (amtlich)

1. Hat das Land durch Gesetz den Vollzug gerichtlicher Entscheidungen über Unterbringungen psychisch Kranker als Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises auf die Landkreise und kreisfreien Städte übertragen, so haften diese für Amtspflichtverletzungen durch ihre Bediensteten.

2. Für Fenster in geschlossenen psychiatrischen Stationen gibt es keine verbindlichen Sicherheitsstandards. Gelingt einem Patienten die Überwindung eines solchen Fensters nur unter Anwendung erheblicher körperlicher Gewalt, so kann daraus nicht hergeleitet werden, es hätten notwendige bauliche Sicherungsmaßnahmen gefehlt. Der Senat vermag sich nicht der Ansicht anzuschließen, dass eine Pflichtwidrigkeit allein daraus herzuleiten ist, dass ein Durchbruch gelingt (Hinweis: Die Revision wurde zugelassen und eingelegt, Az: III ZR 388/12).

 

Verfahrensgang

LG Magdeburg (Urteil vom 14.09.2011; Aktenzeichen 9 O 1041/08)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 31.10.2013; Aktenzeichen III ZR 388/12)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das am 14.9.2011 verkündete Urteil des LG Magdeburg (9 O 1041/08) wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der Kosten der Streithilfe, diese trägt die Streithelferin.

Das angefochtene Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung i.H.v. 120 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

und beschlossen:

Der Streitwert für die Berufungsinstanz wird auf die Gebührenstufe bis 80.000,- Euro festgesetzt.

 

Gründe

I. Der Kläger befand sich am 11.11.2006 zur medizinischen Behandlung in einer geschlossenen psychiatrischen Station des Städtischen Klinikums ..., dessen Träger die verbliebene Beklagte zu 1) ist (i. F. nur noch Beklagte). Die Unterbringung erfolgte aufgrund eines Beschlusses des AG - Vormundschaftsgerichts - Magdeburg vom 25.10.2006 (220 XIV 1293 [Bl. 19/20 I]). Der Kläger hat hinsichtlich des streitgegenständlichen Vorfalls zunächst auch eine Stationsärztin, einen Krankenpfleger und eine Krankenschwester (ehemalige Beklagte zu 2) - 4) in Anspruch genommen. Mit Teilurteil vom 17.6.2009 hat das LG die Klage hinsichtlich der Beklagten zu 2) - 4) abgewiesen. Die dagegen gerichtete Berufung (Urteil des OLG Naumburg vom 12.1.2010 - 1 U 77/09) und eine Nichtzulassungsbeschwerde (VII ZR 43/10) hatten keinen Erfolg.

Der Kläger litt im Zeitpunkt des Vorfalls unter einer schizophrenen Psychose mit wahnhaften Gedanken. Am 11.11.2006 gegen 18.25 Uhr versuchte der Kläger die Station unerlaubt zu verlassen, was unterbunden wurde. Da sich sein psychopathologischer Zustand verschlechtert hatte (Äußerung von starken psychotischen Angstgefühlen), bereitete die ehemalige Beklagte zu 2) die Injektion eines neuroleptischen Medikamentes vor. Unter für den vorliegenden Rechtsstreit nicht mehr relevanten Umständen entfernte sich der Kläger gegen 18.45 Uhr unter dem Vorwand, die Toilette aufsuchen zu wollen. Tatsächlich ging er aber in sein Patientenzimmer, öffnete unter Beschädigung des Fensterrahmens gewaltsam ein Fenster und kletterte auf den Fenstersims. Der ehemalige Beklagte zu 3) versuchte den Kläger verbal zur Rückkehr in das Zimmer zu bewegen, was ohne Erfolg blieb. Der Kläger sprang unvermittelt aus dem 4. Stock in die Tiefe. Dies erfolgte nach den (für den Senat gem. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO bindenden) Feststellungen des LG (LGU S. 2) in suizidaler Absicht. Der Kläger erlitt dabei ein Polytrauma mit Frakturen an allen Extremitäten und an drei Lendenwirbelkörpern sowie ein traumatisches Hirnödem bei diffuser Hirnkontusion (zum Verletzungsbild auch Schriftsatz vom 11.10.2008, S. 4/5 [Bl. 125/126 I]). Für den Kläger wurde vom AG Magdeburg seine Mutter als Betreuerin bestellt.

In der Klageschrift (Bl. 5 I) hat der Kläger zu einer Haftung der Beklagten zu 1) vorgetragen, dass diese dafür habe Sorge tragen müssen, dass das Fenster so ausgestattet gewesen sei, dass es von ihm nicht habe geöffnet werden können. Bei der Betreuung von Patienten, die unter einer schizophrenen Psychose mit wahnhaften Gedanken litten, sei es absolut erforderlich, dass die Fenster nicht von innen geöffnet werden könnten.

Die Beklagte zu 1) ist dem entgegengetreten (Bl. 70 I). Alle Fenster verfügten über ein Sicherungsschloss, durch das ein vollständiges Öffnen verhindert werde. Der Kläger habe das Fenster auch nicht geöffnet, sondern den Fensterflügel unter erheblicher Gewalteinwirkung herausgerissen, so dass der Holzrahmen teilweise zersplittert sei, das Fensterschloss sei verbogen gewesen, auch andere Teile seien deformiert worden. Die Fenster seien zudem am 10.11.2006 gewartet worden und hätten sich in einem ordnungsgemäßen Zustand befunden (unter Hinweis auf einen Bau-Tagesbericht [Bl. 115 I]). Einen absoluten Schutz könne es nicht geben, wenn auf das Fenster mit einer derart starken Gewalt eingewi...

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