Entscheidungsstichwort (Thema)

Arzthaftungsrecht: Behandlungsabbruch bei schwerstkrankem Patienten (hier PEG-Sonde)

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei unklarer bzw. zweifelhafter Indikation für einen ärztlichen Eingriff ist regelmäßig eine besonders umfassende Aufklärung erforderlich.

2. Lässt sich der mutmaßliche Wille des Betreuten nicht feststellen, gilt für den Betreuer die allgemeine Regel des § 1901 Abs. 2 BGB, sodass das (subjektive) "Wohl des Betreuten" Maßstab seines Handelns ist; was dem Wohl eines schwerkranken und nicht mehr äußerungsfähigen Patienten am Ende seines Lebens entspricht, hängt von allgemeinen Wertvorstellungen ab, die wiederum von medizinischen Wertungen beeinflusst werden.

3. Ein Verstoß des behandelnden Arztes gegen § 1901b Abs. 1 BGB ist jedenfalls bei unsicherer bzw. zweifelhafter Indikationslage nach den herkömmlichen Kategorien des Arzthaftungsrechts als Verletzung der Pflicht zur Eingriffsaufklärung als Voraussetzung einer wirksamen Einwilligung des Betreuers in die Fortsetzung der lebenserhaltenden Behandlung einzuordnen.

4. Die Zuführung von Nährstoffen über eine PEG-Sonde bei einem Patienten, der infolge schwerer und irreversibler zerebraler Schäden auf natürlichem Wege trotz Hilfeleistung keine Nahrung mehr zu sich nehmen kann, ist ein widernatürlicher Eingriff in den normalen Verlauf des Lebens, zu dem auch das Sterben gehört.

 

Normenkette

BGB § 280 Abs. 1, § 611 Abs. 1, § 630e Abs. 1, § 1901b Abs. 1-2, § 1922 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG München I (Urteil vom 18.01.2017; Aktenzeichen 9 O 5246/14)

 

Nachgehend

BVerfG (Nichtannahmebeschluss vom 07.04.2022; Aktenzeichen 1 BvR 1187/19)

BGH (Urteil vom 02.04.2019; Aktenzeichen VI ZR 13/18)

 

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts München I vom 18.01.2017, Az. 9 O 5246/14, abgeändert:

Der Beklagte hat an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000,- EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 21.03.2014 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

1. Von den Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger 74%, und der Beklagte 26% zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Beide Parteien können die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages abwenden, sofern nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.

 

Gründe

A. I. Der Kläger macht als Alleinerbe seines am 19.10.2011 verstorbenen Vaters Heinrich S. sen. (i.F. auch: Patient) gegenüber dem Beklagten Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche im Zusammenhang mit dessen künstlicher Ernährung mittels PEG-Sonde in den Jahren 2010 und 2011 geltend. Er ist der Auffassung, die Sondenernährung sei spätestens ab Anfang 2010 medizinisch nicht mehr indiziert gewesen, vielmehr habe sie ausschließlich zu einer sinnlosen Verlängerung des krankheitsbedingten Leidens seines Vaters ohne Aussicht auf Besserung des gesundheitlichen Zustands geführt. Der Beklagte sei als Hausarzt daher zur Änderung des Therapieziels dahingehend verpflichtet gewesen, das Sterben des Patienten unter palliativmedizinischer Betreuung durch Beendigung der Sondenernährung zuzulassen.

Auf die tatsächlichen Feststellungen des Endurteils des Landgerichts München I vom 18.01.2017 wird im Übrigen Bezug genommen.

Das Landgericht hat nach Beweisaufnahme (Erholung eines allgemeinmedizinischen Gutachtens der Sachverständigen Prof. Dr. Sch. und Dr. W. vom 20.01.2016 und mündliche Anhörung des Dr. W. vom 28.11.2016) die Klage abgewiesen.

Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, der Kläger habe aus ererbtem Recht des Patienten gegen den Beklagten weder wegen Verletzung von Pflichten aus dem Behandlungsvertrag noch nach Deliktsrecht Anspruch auf Schmerzensgeld und Schadensersatz. Eine medizinische Indikation zur Fortsetzung der künstlichen Ernährung des Patienten mit PEG-Sonde habe zwar jedenfalls seit Anfang 2010 nicht mehr vorgelegen. Denn es habe kein über die reine Lebenserhaltung bzw. -verlängerung hinausgehendes Behandlungsziel, insbesondere keine Aussicht auf Besserung oder zumindest Stabilisierung des gesundheitlichen Zustands des Patienten gegeben. Ungeachtet dessen sei der Beklagte nicht verpflichtet gewesen, die Beendigung der künstlichen Ernährung in eigener Verantwortung anzuordnen. Er habe allerdings seine Pflicht aus § 1901b Abs. 1 BGB verletzt, spätestens ab Anfang 2010 den Betreuer des Patienten davon in Kenntnis zu setzen, dass ein über die bloße Lebenserhaltung hinausgehendes Therapieziel nicht mehr erreichbar war, und mit ihm zu erörtern, ob vor diesem Hintergrund die Sondenernährung fortgesetzt oder abgebrochen werden solle. Der Kläger habe jedoch den ihm obliegenden Beweis nicht geführt, dass dieses Versäumnis ursächlich für die Fortsetzung der künstlichen Ernährung bis zum Versterben des Patienten geworden sei. Denn es habe weder eine Patientenverfügung vorgelegen, noch sei der mutmaßliche...

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