Entscheidungsstichwort (Thema)

Anhörung der Unfallbeteiligten von Amts wegen als Partei

 

Normenkette

BGB § 823; ZPO § 137 Abs. 4, § 141 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

LG Traunstein (Urteil vom 20.07.2010; Aktenzeichen 7 O 1027/08)

 

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers vom 16.8.2010 wird das Endurteil des LG Traunstein vom 20.7.2010 (Az. 7 O 1027/08) samt dem ihm zugrunde liegenden Verfahren - mit Ausnahme der unfallanalytischen Begutachtung durch den Sachverständigen Dipl.-Ing. T. aufgehoben - und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LG Traunstein zurückverwiesen.

2. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem LG Traunstein vorbehalten. Gerichtsgebühren für die Berufungsinstanz sowie gerichtliche Gebühren und Auslagen, die durch das angefochtene Urteil verursacht worden sind, werden nicht erhoben.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

5. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 17.500 EUR festgesetzt.

 

Tatbestand

A. Von der Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen (§§ 540 II, 313a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).

 

Entscheidungsgründe

B. Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache jedenfalls vorläufig Erfolg. Das LG hat nach derzeitigem Verfahrensstand zu Unrecht einen Anspruch des Klägers auf weiteres Schmerzensgeld verneint.

I. Die Überzeugung des Erstrichters, der Kläger habe über die unstreitigen Verletzungen hinaus keine weiteren Verletzungsfolgen erlitten, beruht auf einer unzureichenden Beweiserhebung und fehlerhaften Beweiswürdigung.

1. Die Beweiserhebung leidet bereits daran, dass es an der notwendigen Anhörung des Klägers fehlt. In Verkehrsunfallsachen sind die unfallbeteiligten Parteien gem. §§ 137 IV, 141 I 1 ZPO grundsätzlich von Amts wegen anzuhören (OLG Schleswig OLGReport Schleswig 2008, 314 = NJW-RR 2008, 1525 = MDR 2008, 684 [nur Ls.] = NZV 2009, 79; Senat, Urt. v. 13.2.2009 - 10 U 5411/08 [Juris = VRR 2009, 163 - Kurzwiedergabe]; v. 5.2.2010 - 10 U 4091/09 [Juris]; LG Berlin DAR 1991, 151 = VRS 80 [1991] 419 = VerkMitt. 1991 Nr. 15; Lemcke r+s 2007, 471 [472]; HdbStraßenverkR/Burmann/Heß Kap. 3 B Rz. 393; vgl. auch KG MDR 2010, 170). Das Unterlassen einer Parteianhörung oder Parteieinvernahme von Amts wegen stellt einen Verstoß gegen Art. 103 I GG dar (BayVerfGH BayVBl. 2009, 639).

2. Ein weiterer Mangel der Beweiserhebung liegt darin, dass erstinstanziell zunächst eine medizinische und erst hieran anschließend eine unfallanalytische Begutachtung durchgeführt worden ist. Diese Vorgehensweise verkennt nicht nur die notwendige zeitliche Reihenfolge der Begutachtung (vgl. dazu Walz/Muser, Möglichkeiten und Grenzen der biomechanischen Beurteilung von körperlichen Beschwerden nach Fahrzeugkollisionen, im Besonderen bezogen auf die Halswirbelsäule, Zürich 1999, S. 6 [unter 6]), sondern ist auch insofern fehlerhaft, als zur Feststellung der für die medizinische Begutachtung notwendigen Anknüpfungstatsachen eine unfallanalytische Begutachtung nicht ausreichend war, sondern eine ergänzende biomechanische Auswertung zur Feststellung der auf den Körper des Klägers einwirkenden Kräfte notwendig gewesen wäre. Dies umso mehr, als vorliegend nicht nur ein einfacher Auffahrunfall zu bewerten war, sondern ein Unfallgeschehen bei welchem das Klägerfahrzeug in engem zeitlichen Zusammenhang gegen 2 Pkws stieß und hierbei sowohl von der rechten als auch der linken Seite zusätzliche Seitenkräfte auf den Kläger einwirkten.

Die Feststellung einer HWS-Distorsionsverletzung ist zwar eine primär medizinische Frage (Senat, Urt. v. 28.7.2006 - 10 U 1684/06 [Juris]; vgl. KG NZV 2004, 460; 2005, 470; 2006, 145; Mazotti/Castro NZV 2002, 499 [500]) bedarf jedoch vorbereitenden Begutachtungen:

  • Die unfallanalytische Untersuchung bestimmt zunächst wieviel Energie in Deformationsarbeit umgewandelt wurde. Mittels physikalischer Gesetze lassen sich damit die erforderlichen Daten (bei Auffahrunfällen vor allem die Kollisionsgeschwindigkeit sowie die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung [Äv]) rekonstruieren.
  • Eine erste, entscheidende Aussage über die möglichen Verletzungsfolgen hätte sich jedoch erst aus der biomechanische Begutachtung, mit der die Belastung, der der Betroffene ausgesetzt war, bestimmt wird (OLG München, Urt. v. 28.7.2006 - 10 U 1684/06 [Juris]; Becke/Castro/Hein/Schimmelpfennig NZV 2000, 225 [226, 235]) ergeben. Im Rahmen einer solchen Begutachtung werden über die Unfalldaten hinaus die konstitutionellen und medizinischen Besonderheiten der betroffenen Person im Einzelfall festgestellt. Biomechanische Gutachten sind zur Feststellung von Unfallfolgen nicht verzichtbar (OLG Hamm OLGReport Hamm 1994, 50 = NJW-RR 1994, 481 = VersR 1994, 1322 = NZV 1994, 189 = DAR 1994, 155 [157]; ferner KG NZV 2005, 521 f.; Senat, Urt. v. 28.7.2006 - 10 U 1684/06 [Juris] und zuletzt Urt. v. 25.6.2010 - 10 U 1847/10 [Juris = NJW-Spezial 2010, 554 - red. Leitsatz, Kur...

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