Entscheidungsstichwort (Thema)

Anscheinsbeweis bei Kettenauffahrunfall

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei einem Kettenauffahrunfall kommt ein Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Verursachung des Frontschadens an dem Fahrzeug, auf das das Fahrzeug des Hintermannes aufgefahren ist, mangels Feststellbarkeit eines ausreichend typischen Geschehensablaufs nicht in Betracht.

2. Ein Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Verursachung des Heckaufpralls durch den letzten in der Kette auffahrenden Verkehrsteilnehmer erfordert die Feststellung, dass das ihm vorausfahrende Fahrzeug des Geschädigten rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen ist und nicht durch einen Aufprall auf das vorausfahrende Fahrzeug den Bremsweg des ihm folgenden Fahrzeugs verkürzt hat.

3. Bei der Abwicklung eines üblichen Verkehrsunfalls handelt es sich, auch in so genannten einfachen Regulierungssachen, um eine durchschnittliche Angelegenheit, bei der die Berechnung einer 1,3 Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG angemessen ist.

 

Normenkette

StVG §§ 7, 17-18; BGB § 823; ZPO §§ 286-287; RVG § 13 Abs. 1; RVG-VV Nr. 2300

 

Verfahrensgang

LG München I (Urteil vom 14.01.2016; Aktenzeichen 19 O 27978/11)

 

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin vom 17.02.2016 gegen das Endurteil des LG München I vom 14.01.2016 wird zurückgewiesen.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

III. Das vorgenannte Urteil des LG München I und dieses Urteil sind jeweils vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

A. Von einer Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313a I 1 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO).

B.I. Die Berufung war zurückzuweisen, weil sie zwar zulässig, aber unbegründet ist.

1.) Die Klägerin hat gegen die Beklagten keinen Anspruch auf samtverbindliche Zahlung von 4.968,52 EUR nebst Zinsen.

a) Zur Position Kfz-Schaden (4.500,00 EUR):

aa) Wie vom Senat bereits mit Hinweisbeschluss vom 19.05.2016 (Bl. 262/269 d.A.) ausgeführt, gilt diesbezüglich zunächst Folgendes:

(1.) Entgegen der Auffassung der Klägerin ist das Ersturteil insoweit nicht zu beanstanden, als es davon ausgeht, dass die Klägerin nicht den ihr obliegenden Nachweis dafür erbracht hat, dass der Beklagte zu 1) den Schaden an der Front des klägerischen Pkw verursacht hat. Es handelt sich hier nicht um einen gewöhnlichen Auffahrunfall, sondern einen Kettenauffahrunfall. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung (vgl. z.B. OLG Düsseldorf, Urteil vom 12.06.2006, Az.: I-1 U 206/05, juris; OLG Hamm, Urteil vom 06.02.2014, Az.: 6 U 101/13, NJW 2014, 3790), dass bei Kettenauffahrunfällen jedenfalls hinsichtlich der Verursachung des Frontschadens an dem Fahrzeug, auf das das Fahrzeug des Hintermanns aufgefahren ist, der für ein Verschulden des Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis in der Regel nicht anwendbar ist, weil regelmäßig gerade kein ausreichend typischer Geschehensablauf feststellbar ist. So verhält es sich auch hier.

Auch soweit die Klägerin die Beweiswürdigung des Erstgerichts angreift, ist dies nicht zielführend. Denn das Berufungsgericht ist nach § 529 I Nr. 1 ZPO an die Beweiswürdigung des Erstgerichts gebunden, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung vorgetragen werden. Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung sind ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche, vgl. z.B. BGH VersR 2005, 945). Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinn ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen (BGHZ 159, 254 [258]; NJW 2006, 152 [153]); bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte genügen nicht (BGH, a.a.O.). Im Einzelnen:

Entgegen dem Vortrag in der Berufungsbegründung (vgl. dort S. 5 = Bl. 243 d.A.) ist dem angefochtenen Urteil bereits gar keine "Überzeugung des Erstgerichts, die Zeugin K. sei unglaubwürdig", zu entnehmen. Vielmehr wird auf S. 9 unten des Ersturteils (= Bl. 210 d.A.) Folgendes ausgeführt: "Unabhängig davon, dass die Aussage der Zeugin K. von Unsicherheiten geprägt war, hat sie dem Gericht glaubwürdig bekundet, dass sie nicht mehr wisse, wie viele Anstöße sie verspürt habe." Das Berufungsvorbringen leidet an dieser Stelle bereits daran, dass nicht zwischen den Begriffen der Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit unterschieden wird. Wie ausgeführt, hat das Erstgericht der Zeugin mitnichten ihre - grundsätzliche - Glaubwürdigkeit abgesprochen. Was wiederum das Problem der gerichtlichen Bewertung der Glaubhaftigkeit einzelner Aussagen betrifft, hat das Erstgericht (allerdings ebenfalls unscharf den Ausdruck "glaubwürdig" benutzend) ausgeführt, dass die Zeugin ihre ursprüngliche Version, lediglich einen Anstoß verspürt zu haben, relativiert hab...

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