Leitsatz (amtlich)

Zur Haftungsprivilegierung eines Schülers nach §§ 106 Abs. 1, 104, 105 SBG VII im Falle einer als schulbezogen qualifizierten Verletzungshandlung (hier: Explosion eines in Richtung der Geschädigten geschleuderten Knallkörpers), durch die eine Schülerin an einer Haltestelle in unmittelbarer räumlicher Nähe zu einem Schulzentrum geschädigt wird.

 

Verfahrensgang

LG Hagen (Aktenzeichen 8 O 265/02)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das am 2.7.2003 verkündete Urteil der 8. Zivilkammer des LG Hagen wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsmittels werden der Klägerin auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

 

Gründe

I. Die am 17.3.1986 geborene Klägerin und der am 19.11.1987 geborene Beklagte sind Schüler der H-Schule in Q.

Am Morgen des 18.1.2002 befanden sich die Parteien gegen 7.10 Uhr neben vielen anderen Schülern an der Bushaltestelle C. Hierbei handelt es sich um die unmittelbar vor dem Schulzentrum Q. gelegene Bushaltestelle, an der sowohl Linienbusse der örtlichen Verkehrsbetriebe als auch Schulbusse halten, wobei die Haltestelle nicht Teil des Schulgeländes ist.

Der Beklagte befand sich in einer Gruppe von Schülern, die mit Knallkörpern hantierten. Im weiteren Verlauf des Geschehens flog ein Knallkörper auf die Klägerin zu und explodierte in unmittelbarer Nähe ihres linken Ohres. Insoweit ist unstreitig, dass der Beklagte den Knallkörper in Richtung der Klägerin katapultiert hat. Streit besteht dahin, in welcher Art er dies getan hat (Wurf oder Heruntertreten des auf einem Poller abgestellten Böllers) und ob der Beklagte absichtlich den Knallkörper in Richtung der Klägerin katapultiert hat.

Die Klägerin erlitt infolge des Ereignisses einen Tinnitus links.

Sie hat behauptet, der Beklagte habe bewusst den Böller in die Personengruppe geworfen. Sie hat die Ansicht vertreten, eine Haftungsfreistellung nach dem SGB VII greife nicht ein. Erstinstanzlich hat sie ein Schmerzensgeld von 10.000 Euro für angemessen erachtet.

Der Beklagte hat bestritten, bewusst den Böller in Richtung der Klägerin geworfen zu haben. Er hat gemeint, es habe sich um einen Schulunfall gehandelt, dieser sei von der Haftungsfreistellung umfasst.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Es hat die Voraussetzungen der §§ 104 Abs. 1, 105 Abs. 1 SGB VII bejaht. Die Ausnahmetatbestände seien nicht gegeben. Eine vorsätzliche Handlung des Beklagten sei nicht festzustellen, insb. nicht, dass der Beklagte die ernsthafte und dauerhafte Verletzung der Klägerin gewollt habe. Auch liege kein Wegeunfall vor, weil die Inanspruchnahme von Schulbussen seitens der Schüler mit den Verhältnissen des Werksverkehrs vergleichbar sei.

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Klageziel weiter, wobei sie in der zweiten Instanz ein Schmerzensgeld von 15.000 Euro für angemessen hält. Sie greift die von dem LG angenommene Haftungsfreistellung des Beklagten als rechtsfehlerhaft an. Weiter seien angebotene Beweise fehlerhaft nicht erhoben worden.

II. Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Die Klägerin hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld und Feststellung der künftigen Ersatzpflicht von immateriellen Schäden aus dem Ereignis vom 18.1.2001 an der Bushaltestelle C. in Q.

1. Die Voraussetzungen einer unerlaubten Handlung nach §§ 823, 847 BGB a.F. liegen zwar vor, Täterschaft des Beklagten und Rechtsgutverletzung der Klägerin sind zwischen den Parteien unstreitig.

2. Zugunsten des Beklagten greift aber die Haftungsfreistellung des § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII ein.

a) Die Zivilgerichte sind bei der Frage, ob ein Versicherungsfall vorliegt, an die Entscheidung des Sozialversicherungsträgers gebunden, § 108 Abs. 1 SGB VII. Eine Entscheidung des Sozialversicherungsträgers ist im vorliegenden Fall noch nicht ergangen. Gleichwohl ist das Verfahren nicht gem. § 108 Abs. SGB VII bis zur endgültigen Entscheidung auszusetzen, um widersprechende Entscheidungen zu verhindern, weil die zivilrechtliche Entscheidung der Haftungsfreistellung auch ohne eine bindende Entscheidung des Sozialversicherungsträgers allein aufgrund der vom Senat zu prüfenden Fragen getroffen werden kann:

Nach § 106 Abs 1 SGB VII gelten die §§ 104, 105 SGB VII in den Schulen entsprechend, d.h. sie sind gedanklich auf die besondere Situation in der Schule umzuformen, also ihre Auslegung den Eigenheiten des Schulbetriebes so anzupassen, dass die Zweckbestimmung der Haftungsablösung auch in "Schulfällen" zum Tragen kommt (st. Rspr. BGH v. 28.4.1992 - VI ZR 284/91, MDR 1993, 28 = VersR 1992, 854; OLG Schleswig VersR 2002, 238 m.w.N.). Hiernach ist, wenn ein Schüler einen anderen verletzt, für die Haftungsbefreiung darauf abzustellen, ob die Verletzungshandlung "schulbezogen" war, d.h. ob sie auf der typischen Gefährdung aus engem schulischen Kontakt beruht und deshalb inneren Bezug zum Besuch der Schule aufweist oder ob sie nur "bei Gelegenheit" des Schulbesuches erfolgt ist (BGH v. 28.4.1992 - VI ZR 284/91, MDR 1993, 28). Dabei ist es nicht entscheidend, ob die Verletzungshandlung...

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