Leitsatz (amtlich)

Ein Zahnarzt kann für eine Behandlung mittels Infiltrations- oder Leitungsanästhesie haften, wenn er den Patienten über die als echte Alternative mögliche Behandlung mittels intraligamentärer Anästhesie nicht aufgeklärt hat und die vom Patienten für den zahnärztlichen Eingriff erteilte Einwilligung deswegen unwirksam gewesen ist.

 

Normenkette

BGB §§ 280, 630d, 630e, 823, 253 II

 

Verfahrensgang

LG Bielefeld (Urteil vom 02.10.2015; Aktenzeichen 4 O 371/13)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das am 2.10.2015 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des LG abgeändert.

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld von 4.000,00 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.8.2013 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche materiellen und derzeit nicht absehbaren immateriellen Schäden, die infolge der Behandlung vom 17.7.2013 zukünftig entstehen werden, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf den Sozialversicherungsträger oder Dritte übergehen.

Der Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger außergerichtliche Kosten in Höhe von 413,64 Euro zu zahlen.

Die weiter gehende Klage bleibt abgewiesen.

Die Widerklage wird abgewiesen.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

Der am 22.01.19xx geborene Kläger hat von dem Beklagten wegen vermeintlicher zahnärztlicher Behandlungsfehler in der Hauptsache die Zahlung eines mit mindestens 7.500,00 EUR für angemessen gehaltenen Schmerzensgeldes, die Feststellung weiter gehender Ersatzpflicht und die Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten in Höhe von 729,23 EUR begehrt.

Der Beklagte führte am 17.7.2013 bei dem Kläger wegen starker Schmerzen eine Neuverplombung zweier Zähne im Unterkiefer durch. Zur Betäubung des Klägers, der Angstpatient ist, setzte der Beklagte eine Leitungsanästhesie für den zu behandelnden Bereich im Unterkiefer ein. Am Folgetag teilte der Kläger dem Beklagten telefonisch mit, dass seine Zunge kribbele und taub sei. Eine Nachuntersuchung in der Praxis des Beklagten lehnte er ab, weil er sich auf dem Weg in den Urlaub befand.

Der Kläger hat erstinstanzlich geltend gemacht, dass der Beklagte durch ein behandlungsfehlerhaftes Setzen der Spritze den Nervus lingualis verletzt habe. Seither leide er unter erheblichen Zungengefühlsstörungen in Form permanenter Gefühllosigkeit des Zungenbereichs mit Ausnahme der Zungenspitze.

Darüber hinaus hat der Kläger Aufklärungsmängel gerügt. Er sei nicht über das typische Risiko der Nervverletzung informiert worden. Wäre das geschehen, hätte er auf die Betäubung verzichtet. Überdies gebe es andere Methoden der Betäubung, bei denen das Risiko einer Nervverletzung deutlich geringer oder überhaupt nicht vorhanden sei.

Der Beklagte hat behauptet, die Behandlung sei behandlungsfehlerfrei durchgeführt worden. Er habe den Kläger überdies auch über mögliche Komplikationen einer Betäubungsspritze aufgeklärt. Weitere Aufklärungen habe der Kläger, der sich in Eile befunden habe, ausdrücklich nicht gewünscht. Sollte bei dem Kläger eine Verletzung des Nervus lingualis vorliegen, handele es sich um die Folge vorhergehender anderweitiger Behandlungen.

Widerklagend hat der Beklagte die Zahlung des bei der Behandlung des Klägers angefallenen zahnärztlichen Honorars in Höhe von 334,82 EUR begehrt.

Das LG hat die Klage nach uneidlicher Vernehmung von Zeugen sowie sachverständige schriftliche und mündliche Begutachtung durch den Zahnarzt Dr. Q abgewiesen und der Widerklage stattgegeben.

Behandlungsfehler ließen sich nicht feststellen. Die Betäubung mittels Leitungsanästhesie sei bei dem als Angstpatient anzusehenden Kläger aufgrund seines eigenen Wunsches indiziert gewesen. Die Leitungsanästhesie sei auch als Methode der Wahl bei der Behandlung mehrerer Zähne anzusehen; ihre Durchführung sei lege artis erfolgt. Bei der Nervschädigung handele es sich um die Verwirklichung eines typischen Risikos dieser Methode. Es gebe zwar als Alternative die intraligamentäre Anästhesie, die anders als die Leitungsanästhesie nicht mit dem Risiko der Nervschädigung versehen sei. Gleichwohl werde sie in Fällen wie dem vorliegenden von 90-95 % der Zahnärzte nicht eingesetzt. Es sei auch unklar, ob der Kläger als Angstpatient dieses Verfahrens akzeptiert hätte, obwohl hierfür mindestens 8 Einstiche in einem Zeitraum von bis zu 2 Minuten erforderlich gewesen wären, während die Leitungsanästhesie nur 15 Sekunden benötige.

Auch die Aufklärung sei nicht zu beanstanden. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme durch Vernehmung der Arzthelferinnen sei davon auszugehen, dass über die Komplikationen hinreichend informiert worden sei. Eine Aufklärung über die Alternative der intraligamentären Anästhesie sei nicht erforderlich gewesen, weil es sich nicht um eine gleichwertige Behandlungsalternative gehandelt habe.

Dagegen richtet...

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