Entscheidungsstichwort (Thema)

Auslieferung. Türkei. lebenslange Freiheitsstrafe. Auslieferungshindernisse

 

Leitsatz (amtlich)

Ist im Falle einer Auslieferung zum Zwecke der Strafverfolgung in die Türkei zu befürchten, dass der Angeklagte zu einer nach türkischem Recht möglichen sogenannten erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wird, darf er nur dann ausgeliefert werden, wenn er eine reelle Chance auf Wiedererlangung der Freiheit hat. Die bloß theoretische Möglichkeit der Wiedererlangung der Freiheit durch in der türkischen Verfassung vorgesehene Begnadigungen oder Straferlässe durch das Staatsoberhaupt ist hierfür nicht ausreichend. Das erkennende Gericht durch Anfrage zu prüfen, wie und in welchem Umfang in der Türkei von der Gnadenregelung Gebrauch gemacht wird, bevor es über eine Auslieferung entscheiden kann.

 

Normenkette

GG Art. 1-2, 104

 

Tenor

  • 1.

    Der Senat tritt erneut in die Prüfung der Zulässigkeit der Auslieferung des Verfolgten in die Türkei zum Zwecke der Strafverfolgung wegen der ihm mit Anklage der Oberstaatsanwaltschaft der Republik bei dem Staatlichen Sicherheitsgericht zu Diyarbakir vom 28. November 2007 (Untersuchungsnummer: 1999/1048, Grundnummer: 1999/797, Anklageschrift: 1999/759) und dem hierauf gestützten Haftbefehl des Schwurgerichts zu Diyarbakir vom 28. November 2007 zur Last gelegten Straftaten ein.

  • 2.

    Die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung wird wegen eines Auskunftsersuchens des Senats an die türkischen Behörden zurückgestellt.

 

Gründe

I.

Der Senat hat mit Beschluss vom 13. Januar 2009 die förmliche Auslieferungshaft gegen den Verfolgten angeordnet. Wegen der Einzelheiten wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf diesen Beschluss Bezug genommen. Der Verfolgte wurde am 02. April 2009 aufgrund des vorgenannten Auslieferungshaftbefehls im Ausländeramt der Stadt Bochum festgenommen und befindet sich seitdem in Auslieferungshaft in der Justizvollzugsanstalt Bochum.

Mit Beschlüssen vom 02. Juni 2009 und 17. September 2009 hat der Senat die Auslieferung des Verfolgten in die Türkei für zulässig erklärt bzw. die Einwendungen des Verfolgten gegen die Zulässigkeit der Auslieferung zurückgewiesen. Mit Beschlüssen vom 02. Juni 2009, 03. August 2009, 01. Oktober 2009 sowie 01. Dezember 2009 hat der Senat die Fortdauer der Auslieferungshaft angeordnet. Auch auf diese vorgenannten Beschlüsse wird zwecks Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.

Der Verfolgte hat unter anderem gegen die Entscheidungen des Senats vom 02. Juni 2009 und 17. September 2009, in denen der Senat die Auslieferung für zulässig erklärt hat, Verfassungsbeschwerde eingelegt. Er hat unter anderem eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 19 Abs. 4 GG gerügt. Wesentliches Zulässigkeitshindernis sei nämlich, dass nach einer Auslieferung das Verfahren gegen ihn nach Maßgabe von Art. 302 des türkischen Strafgesetzbuches durchgeführt werde. Im Falle einer Verurteilung werde er daher zu einer erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt werden. Erschwerung bedeute, dass eine Umwandlung in eine befristete Freiheitsstrafe nicht zulässig sei, eine bedingte Entlassung sei danach ausgeschlossen. Die Gefangenen blieben bis zu ihrem physischen Ableben im Strafvollzug. Diese Form der lebenslangen Freiheitsstrafe sehe das Gesetz bei Vergehen gegen die Staatssicherheit (Art. 302-304, 307 und 308 türkischen Strafgesetzbuches) und gegen die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 309-315 des türkischen Strafgesetzbuches) vor.

Das Bundesverfassungsgericht hat der Verfassungsbeschwerde insoweit teilweise stattgegeben und wie folgt entschieden:

"Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 2. Juni 2009 - (2) 4 Ausl. A 22/08 (152 und 153/09) OLG Hamm - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit in ihm die Auslieferung des Beschwerdeführers zur Strafverfolgung für zulässig erklärt wird. Der Beschluss wird insoweit aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht Hamm zurückverwiesen.

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 17. September 2009 - (2) 4 Ausl. A 22/08 (338/09) OLG Hamm - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit die Einwendungen des Beschwerdeführers gegen die Zulässigkeit der Auslieferung zurückgewiesen worden sind. Der Beschluss wird insoweit aufgehoben."

Zur Begründung hat das Bundesverfassungsgericht u.a. Folgendes ausgeführt:

"II.

Die Auslieferung bei drohender Verhängung einer sogenannten erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verstößt gegen unabdingbare Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung, soweit diese erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe so ausgestaltet ist, dass sie nicht lediglich eine Strafaussetzung zur Bewährung gesetzlich ausschließt, sondern auch die bloß theoretische Möglichkeit einer späteren Begnadigung unter die rechtliche Bedingung dauernder Krankheit, Behinderu...

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