Leitsatz (amtlich)

Auch für einen Untersuchungshaftgefangenen kommt es für den Begriff der Wohnung i. S. der Zustellungsvorschriften der ZPO entscheidend darauf an, ob der Zustellungsempfänger tatsächlich an der angegebenen Anschrift (noch) wohnt. Anders als bei der Strafhaft ist bei der Untersuchungshaft für die Beurteilung, ob der Untersuchungshaftgefangene dort(noch) seinen Lebensmittelpunkt hat, nicht die bei der Strafhaft von vornherein absehbare gesamte Dauer des Zwangsaufenthalts maßgeblich, sondern die tatsächliche Zeit, die der Zustellungsempfänger bis zur Ersatzzustellung von dem aufrecht erhaltenen Wohnsitz abwesend gewesen ist.

 

Verfahrensgang

LG Bochum (Entscheidung vom 16.05.2002)

 

Tenor

Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird auf Kosten des Angeklagten verworfen.

Die Revision wird auf Kosten des Angeklagten als unzulässig verworfen.

 

Gründe

I.

Das Amtsgericht Recklinghausen hat den Angeklagten durch Urteil vom 6. Dezember 2001 gemeinsam mit seiner Tochter wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist, verurteilt. Die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung des Angeklagten ist durch Urteil der 2. auswärtigen Strafkammer - Jugendkammer - Recklinghausen des Landgerichts Bochum vom 16. Mai 2002 gemäß § 329 StPO verworfen worden. Dieses Urteil ist dem Angeklagten durch Niederlegung am 23. Mai 2002 zugestellt worden.

Mit am 9. August 2002 eingegangenem Antrag hat der Angeklagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist beantragt. Diese Anträge sind durch Beschluss der 2. auswärtigen Strafkammer Recklinghausen des Landgerichts Bochum vom 30. September 2002 zurückgewiesen worden. Der Angeklagte hat zugleich auch Revision eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision gegen das Urteil vom 16. Mai 2002 beantragt. Zur Begründung hat er angegeben, er habe sich in der Zeit vom 6. Mai 2002 bis zum 15. Juli 2002 in Untersuchungshaft befunden und habe erst am 3. August 2002 von seiner mit ihm nach Sinti- und Romaart verheirateten Ehefrau J. das Urteil des Landgerichts Bochum vom 16. Mai 2002 erhalten. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, dem Angeklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

II.

Der beantragten Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision gegen das Urteil vom 16. Mai 2002 bedarf es. Die am 23. Mai 2002 durch Niederlegung erfolgte Zustellung des angefochten Urteils ist wirksam (§ 182 ZPO). Der Angeklagte hatte - zumindest noch am 23. Mai 2002 - seine Wohnung an der Zustellungsadresse. Diese hatte ihre Wohnungseigenschaft nicht dadurch verloren, dass der Angeklagte in anderer Sache in der Zeit vom 6. Mai bis zum 15. Juni 2002 in Untersuchungshaft inhaftiert war.

Nach allgemeiner Meinung in Rechtsprechung und Literatur (vgl. u. a. BGH NJW 1978, 1858 mit weiteren Nachweisen; OLG Karlsruhe StV 1985, 291; Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl. , 2003, § 37 Rn. 9 mit weiteren Nachweisen) kommt es für den Begriff der Wohnung im Sinne der in der StPO entsprechend anwendbaren Vorschriften der §§ 181, 182 ZPO entscheidend darauf an, ob der Zustellungsempfänger tatsächlich an der angegebenen Anschrift wohnt, insbesondere ob er in den Räumen wohnt und dort schläft (BGH, a.a.O. ). Nach der Rechtsprechung des BGH, die soweit ersichtlich in der übrigen obergerichtlichen Rechtsprechung unbestritten ist, verliert eine (frühere) Wohnung bei Abwesenheit des Zustellungsempfängers dann ihre Eigenschaft als dessen Wohnung im Sinne der Zustellungsvorschriften, wenn sich während seiner Abwesenheit der räumliche Mittelpunkt seines Lebens an den neuen Aufenthaltsort verlagert. Dies hat der BGH u. a. für den Fall angenommen, dass sich der Zustellungsempfänger in einer zweimonatigen Strafhaft befindet, wenn er während seiner Inhaftierung keine fortdauernde persönliche Beziehung zu seiner Wohnung aufrecht erhalten hat, wie sie z. B. noch bestehen könnte, wenn Angehörige des Zustellungsempfängers dort noch wohnen würden (BGH, a.a.O. ).

Nach Auffassung des Senats muss Entsprechendes gelten, wenn sich der Zustellungsempfänger nicht in Strafhaft, sondern in Untersuchungshaft befindet (so auch OLG Karlsruhe, a.a.O. ). Das OLG Karlsruhe weist zutreffend darauf hin, dass das entscheidende Merkmal der Zuweisung eines Zwangsaufenthalts auf die Untersuchungshaft in gleichem Maße zutrifft wie für die Strafhaft. Anders als bei der Strafhaft ist bei der Untersuchungshaft jedoch nicht die bei der Strafhaft von vornherein absehbare gesamte Dauer des Zwangsaufenthalts maßgeblich, sondern die tatsächliche Zeit, die der Zustellungsempfänger bis zur Ersatzzustellung von dem aufrecht erhaltenen Wohnsitz abwesend gewesen ist. Anders als Strafhaft ist Untersuchungshaft nämlich nicht im Vorhinein berechenbar (so auch VGH Hessen ...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge