Leitsatz (amtlich)
Unwirksamkeit der Einwilligung des Patienten wegen mangelhafter Aufklärung über Notwendigkeit von Strahlentherapie bei Zungentumor
Verfahrensgang
LG Kassel (Urteil vom 29.02.2012; Aktenzeichen 2 O 1387/09) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 29. Februar 2012 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Kassel (2 O 1387/09) wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu tragen.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils beizutreibenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Der Kläger verlangt Schadensersatz wegen Strahlenschäden.
Nach einer in der Klinik1 gestellten Diagnose eines mäßig differenzierten Plattenepithelkarzinoms der Zunge am 5. November 20XX stellte sich der Kläger am 18. November 20XX in der Klinik2 der Beklagten vor. Dort wurde zunächst eine Induktionschemotherapie durchgeführt und am 27. Januar 20XX das Zungenkarzinom operativ entfernt. Bei der entnommenen Gewebeprobe wurden keine Metastasen festgestellt und der Nachweis für das vordiagnostizierte Plattenepithelkarzinom nicht geführt. Nach einer Tumorkonferenz am ... im Klinikum der Beklagten, an der auch Ärztinnen einer mit dem Klinikum kooperierenden strahlentherapeutischen Gemeinschaftspraxis teilnahmen, wurde dem Kläger die Durchführung einer zusätzlichen Strahlentherapie in der Gemeinschaftspraxis empfohlen. Diese erfolgte sodann.
Wegen der Einzelheiten der tatsächlichen Feststellungen und wegen der erstinstanzlich gestellten Anträge wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.
Das Landgericht hat die Klage hinsichtlich des Antrags auf Verurteilung zu einem angemessenen Schmerzensgeld dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und dem Feststellungsantrag des Klägers durch ein Teil-Grundurteil und Teil-Endurteil stattgegeben.
Die von der Beklagten hiergegen erhobene Berufung hat der Senat durch Urteil vom 30. April 2013 zurückgewiesen: Die Ärzte der Beklagten hätten bei der Anordnung der Strahlentherapie ihre Aufklärungspflicht verletzt. Nach den Ausführungen des Sachverständigen sei der Eingriff nur relativ indiziert gewesen. Dem Kläger hätte vor der Durchführung der Strahlentherapie mitgeteilt werden müssen, dass nach herrschender Lehrmeinung eine postoperative Bestrahlung nicht notwendig gewesen sei und angesichts der schädigenden Wirkung der Strahlentherapie auch nur äußerst zurückhaltend angewendet werden sollte.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hat der Bundesgerichtshof das Urteil vom 30. April 2013 durch Beschluss vom 28. Oktober 2014 (VI ZR 273/13) aufgehoben und die Sache zu erneuter Verhandlung an den Senat zurückverwiesen:
Der Senat hätte den Sachverständigen auf Antrag der Beklagten zur Erläuterung seines Gutachtens anhören müssen. In der mündlichen Verhandlung beim Landgericht am 11. Januar 2012 habe der Beklagtenvertreter beantragt, ihm Gelegenheit zur Stellungnahme zur Beweisaufnahme einzuräumen. Das Landgericht habe einen Schrift-satznachlass abgelehnt, weil die prozessualen Voraussetzungen hierfür nicht vorlägen. Daraufhin habe die Beklagte - nach der zum Urteil führenden mündlichen Verhandlung - mit Schriftsatz vom 9. Februar 2012 unter anderem ausgeführt, der gerichtliche Sachverständige müsse angehört werden, und beantragt, die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen und den Sachverständigen zur Anhörung zu laden. In der Berufungsbegründung habe sie "nochmals die ergänzende Befragung des Sachverständigen" beantragt und zur Vermeidung von Wiederholungen auf den gesamten Vortrag aus erster Instanz, insbesondere auch auf den Schriftsatz vom 9. Februar 2012, verwiesen und diesen "zum Gegenstand diesseitigen Vortrags" gemacht. Damit habe die Beklagte ihren Antrag auf Anhörung des Sachverständigen zum Gegenstand des Berufungsverfahrens gemacht.
Gemäß §§ 397, 402 ZPO, Art. 103 Abs. 1 GG habe die Partei einen Anspruch darauf, dem Sachverständigen die ihrer Ansicht nach für die Aufklärung der Sache erforderlichen Fragen zur mündlichen Beantwortung vorzulegen. Hierzu genüge es, wenn sie allgemein angebe, in welche Richtung sie durch ihre Fragen eine weitere Aufklärung herbeiführen wolle. Im Hinblick darauf hätte der Senat den Sachverständigen anhören müssen.
Die Beklagte und ihre Streithelferin verfolgen nach der Zurückverweisung der Sache ihre auf Abweisung der Klage gerichteten Berufungsanträge weiter.
Sie wiederholen unter Hinweis auf Fachliteratur und ärztliche Leitlinien ihre Einwände gegen die Einschätzung des Sachverständigen A, es habe zur Zeit der Strahlenbehandlung des Klägers überwiegender Lehrmeinung entsprochen, dass ein vollständig entfernter (in sano operierter) T2-Tumor der Zunge, bei dem histologisch keine Lymphknotenmetastase...